„Diese Gerechtigkeit kommt spät, allzu spät“ – Kommentar zum Stutthof-Prozess in Münster

Aktuell läuft vor dem Landgericht Münster der Prozess gegen einen ehemaligen SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof. Dem 94-jährigen Johann R. aus dem Kreis Borken wird Beihilfe zum hundertfachen Mord vorgeworfen, weil er als Teil der Wachmannschaft Teil der Folter- und Vernichtungsmaschinerie des Lagers war.

Das KZ Stutthof bei Danzig ist in Deutschland nur wenigen bekannt. Es wurde von den Nazis kurz nach dem Überfall auf und der anschließenden Besatzung Polens ab dem August 1939 errichtet und war ein von der SS geleitetes Arbeits- und Vernichtungslager mit mehreren Außenlagern. Anfangs vor allem zur Internierung politischer Gefangener genutzt, wurden seit der offiziellen Deklaration als Konzentrationslager vor allem Juden und Jüdinnen dorthin verschleppt. Stutthof wurde aufgrund seiner abgelegenen Lage erst am 9. Mai 1945 von der roten Armee befreit. Sie konnte nur noch wenige hundert Gefangene befreien, der Großteil war seit Beginn des Jahres 1945 von der SS erschossen oder bei erzwungenen Todesmärschen umgebracht worden. Insgesamt durchliefen ca. 120.000 Menschen das KZ, mindestens 65.000 von ihnen wurden dort ermordet.

Mit dem Prozess gegen Johann R. beginnt nun eine sehr späte Aufarbeitung der Verbrechen in Stutthof. Möglich wurde die Anklage durch das sogenannte Demjanjuk-Urteil aus dem Jahr 2011. Damals wurde erstmals ein KZ-Wachmann ohne einen individuellen Tatnachweis für seine Tätigkeit im Lager wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Damit kippte das Münchener Landgericht eine Rechtsauffassung, die 65 Jahre lang viele Täter*innen vor Strafverfolgung geschützt, ihnen ein Leben als unbescholtene Bürger*innen und einen ruhigen Lebensabend ermöglicht hatte.

Das galt auch für Johann R.: Nach dem Krieg heiratete er, gründete eine Familie, promovierte, wurde Direktor einer Fachschule für Gartenbau und ging mit 65 Jahren in Rente. Eine deutsche Karriere wie so viele – ohne Reue, ohne Verantwortung. Auch deshalb ist dieser Prozess für die insgesamt 17 Nebenkläger*innen, Betroffene und ihre Angehörigen aus vielen Teilen der Welt, so wichtig. Für sie bedeutet er eine späte, wie eine Nebenklägerin es am 1.Prozesstag erklären ließ „allzu späte“, Gerechtigkeit. Das wurde aus ihren Erklärungen bzw. denen ihrer Anwält*innen mehr als deutlich. Für sie ist dieser Prozess schmerzhaft, lässt er doch vieles wieder aufleben und konfrontiert sie erneut mit der Gleichgültigkeit, mit der die deutsche Gesellschaft und Justiz ihnen in den letzten 70 Jahren überwiegend begegnet sind.

Wie belastend dieser Prozess für die Nebenkläger.innen wird, hängt in hohem Maß auch vom Verhalten des Angeklagten und seiner Verteidiger ab. An den bisherigen Prozesstagen zeigte sich jedoch, dass Johann R. mitnichten daran denkt, sich seiner Verantwortung zu stellen. Nachdem ein historisches Gutachten vorgelegt wurde, welches die letzten Zweifel an den Zuständen im KZ Stutthof ausräumte, ließ er am 13.11. durch seinen Verteidiger Andreas Tinkl eine Erklärung verlesen.

Diese drehte sich vor allem um sein eigenes Schicksal und stellt ihn selbst als Opfer dar. So sei er nach seiner Einberufung zum Wehrdienst als „nicht fronttauglich“ eingeschätzt und nach kurzer Ausbildung bei der SS in das Lager versetzt worden. Er streitet nicht ab, dass in Stutthof Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, weist aber jedwedes Wissen davon und jedwede Verantwortung dafür von sich. Er habe als Wachmann lediglich das Lager bewacht und Gefangene zu Arbeitseinsätzen begleitet so R. in seiner Erklärung. Von den systematischen Misshandlungen und Tötungen will er nichts mitbekommen haben. Lediglich die katastrophalen hygienischen Zustände in Stutthof und die schlechte Verfassung der Gefangenen habe er bemerkt.

Sich selbst stellt Johann R. schließlich als Opfer dar. Ihm wäre das Schicksal der Gefangenen nicht gleichgültig gewesen, der Umgang mit den Gefangenen wäre für ihn als „christlich erzogenen Menschen“ schwer zu ertragen gewesen. Aber aus Angst vor disziplinarischen Maßnahmen hätte er sich dazu nicht geäußert und auch nichts dagegen unternommen. Ein Nazi will er trotz eines jahrelangen Dienstes bei der SS nie gewesen sein, das erklärte er bei seiner Aussage mit Nachdruck.

Es sind Worte und eine Haltung die fassungslos und wütend machen. Fassungslos ob der Dreistigkeit, mit der R. und seine Verteidiger die systematischen Verbrechen in Stutthof ausblenden. Obwohl sie die Taten nicht bezweifeln, versuchen sie ein Bild des Konzentrationslagers zu zeichnen, in dem Gräueltaten nicht allgegenwärtiger Teil des Systems und seines perfiden Konzeptes gewesen wären, sondern still und heimlich von einem kleinen verschworenen Teil der SS begangen worden wären.

Im Gegensatz zu diesen „echten Nazis“ hätte der Rest der Lagermannschaft nur ihre Pflicht getan und sich weder schuldig noch ideell zu Mittätern gemacht. In Stutthof wurden Zehntausende Menschen ermordet: Sie wurden mit einer Genickschussmaschine hingerichtet, mit Injektionen vergiftet, vergast, erschlagen, im Winter vor den Baracken erfrieren gelassen, durch Arbeit bis zum Zusammenbruch ermordet und auf Todesmärsche getrieben. Zeitzeug*innen berichten davon, dass die Toten von der SS reihenweise vor die Baracken gelegt wurden. Dass jemand, der mehrere Jahre dort eingesetzt war, von all dem nichts mitbekommen haben will, ist schlichtweg unvorstellbar.

Wütend ob der vielen Stellen, an denen sich Johann R.s Aussage selbst entlarvt: Er und seine Verteidiger legen Wert darauf, dass R. von der Existenz der Gaskammer, die 1944 dort errichtet wurde, nichts gewusst habe. Als würde es einen Unterschied machen, auf welche Weise Menschen ermordet wurden. Als wäre eine Genickschussanlage, das Erfrieren lassen oder die tödliche Arbeit im Lager keine Form des industriellen Massenmordes.

Des Weiteren ließ R. durchblicken, er hätte Stutthof als reines Strafgefangenen- und Arbeitslager verstanden, vornehmlich für politische Gefangene, von jüdischen Gefangenen will er nur wenig bemerkt haben. Als wäre es weniger Unrecht gewesen, wenn die Nazis ausschließlich ihnen politisch missliebige Menschen erniedrigt, gefoltert und ermordet hätten. R. versucht hier auf perfide Art und Weise, die Opfer des Nationalsozialismus in Klassen einzuteilen und gegeneinander auszuspielen. Er rechtfertigt damit implizit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn diese im vermeintlich legalen oder ideologisch gerechtfertigten Rahmen des Regimes verübt worden wären.

Wütend macht auch die allzu bekannte Täter-Opfer-Umkehrung, die der Angeklagte versucht zu betreiben. Die Zustände im Lager waren katastrophal, das ist vielfach belegt. Das verschweigt R. auch gar nicht. Er tut sich aber vor allen Dingen selber leid. Der Gestank der Krematorien wäre allgegenwärtig und unerträglich gewesen, gab er zu Protokoll. Er spricht von seiner Angst vor dem Krieg und den Schwierigkeiten, die Gräuel im Lager zu verarbeiten. Davon, dass er sich heute dafür schämt, wobei er doch von nichts gewusst haben will und für nichts verantwortlich sein möchte.

Das zeigt sich auch im Eingang seiner Erklärung. Es gehe allein um die Frage nach seiner individuellen Schuld, nicht um die Schuld „des Systems“, die sei unbestritten.
Ein bekanntes Muster, mit dem eine ganze Generation von Täter*innen versucht hat, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Schuld war ein System, vielleicht eine kleine Riege von Verbrechern, vielleicht ein einzelner charismatischer Führer, aber niemals die Millionen, die ihnen zu gerne gefolgt sind und ihre Worte gnadenlos in die Tat umgesetzt haben. Unerwähnt bleiben die im Verhältnis wenigen, aber dennoch so vielen Aufrichtigen, die sich unter Einsatz des eigenen Lebens dem NS-Regime verweigert, entzogen oder dagegen Widerstand geleistet haben – davon will man dann lieber nichts hören und flüchtet sich in Allgemeinplätze, die diese Option schlichtweg verleugnen.

Was in Johann R.s Erklärung komplett fehlt: Eine Entschuldigung. Mit keinem Wort richtet er sich an die Überlebenden, ihr Angehörigen oder die Angehörigen der Ermordeten. Kein Wort der Reue, keine offene Auseinandersetzung mit den eigenen Taten und der daraus resultierenden Verantwortung. Es ist bezeichnend.

Wir können uns nur vorstellen, wie all dies auf die Nebenkläger*innen wirkt. Wie fassungslos, wütend und verletzt sie vielleicht sind. Wie stark sie dieser Prozess und das Verhalten von Johann R., der im Gerichtssaal weint, aber trotzdem alles von sich weist, sie belasten mag. Wir hoffen nur, dass die deutsche Justiz nicht ihre Fehler der letzten 70 Jahre wiederholt und dem Angeklagten seine Lebenslüge abnimmt. Wir hoffen, sie finden die Gerechtigkeit, die ihnen so lange verwehrt blieb.

Wie kann diese Gerechtigkeit aussehen? Eine Frage, deren Antwort man sich nur nähern kann. Einige der Nebenkläger*innen haben zu Beginn des Prozesses deutlich gemacht, dass es Ihnen nicht um eine “harte” Strafe für den Johann R. geht, sondern darum, dass seine persönliche Verantwortung für die in Stutthof benannten Verbrechen festgestellt wird. So ließ Marga Griesbach, die das KZ Stutthoff überlebte und nun als Nebenklägerin im Prozess auftritt, durch ihren Anwalt Mehmet Daimagüler mitteilen, dass sie vor allem nicht verstehe, warum über Jahre nichts oder wenig unternommen wurde, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Jetzt noch die wenigen, sehr alten Angeklagten vor Gericht zu bringen, sei „too little, too late“. Trotzdem sei es für sie wichtig, dieses Verfahren noch zu erleben. Heute werde wieder die Shoa geleugnet, würde wieder gegen Minderheiten gehetzt, so die Überlebende. Da müsse der Gerichtsprozess Zeugnis über die im KZb Stutthoff verübten Verbrechen ablegen. Marta Griesberg überlebte die Nazi-Lager, doch ihren damals 6 Jahre alten Bruder sah sie zuletzt im KZ Stutthoff. Er wurde von ihr getrennt, nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet.

Johann R. war eines der zahlreichen Räder im Getriebe der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Ein Verbrechen bis dato unvorstellbaren Ausmaßes, das nur gelingen konnte, weil es von Millionen von Menschen mitgetragen, mitorganisiert und mit begangen wurde. Diese Menschen, so unbedeutend ihr individueller Beitrag im Verhältnis auch erscheinen mag, tragen eine Mitschuld an Mord, Folter und Entrechtung. Sie müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Das ist die zentrale Botschaft der späten Prozesse gegen die KZ-Wachmannschaften. Und sie ist unabhängig davon, welches Strafmaß das Gericht letztendlich festlegt oder ob der greise Angeklagte seine Strafe überhaupt noch antreten können wird.

Diese Prozesse hätten – wie so vieles in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen – schon vor Jahrzehnten stattfinden müssen. Dennoch ist es richtig, sie jetzt noch durchzuführen. Es ist eine späte Form der Aufarbeitung, der Anerkennung von Mitschuld und Verantwortung, der Wiedergutmachung für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Letzteren Raum zu geben und zuzuhören muss – trotz dem formal bedingten Fokus auf den Täter – deshalb auch ein zentrales Anliegen im Prozess sein. Wir hoffen, die Nebenkläger*innen finden im angemessenen Maß Gehör. Wir werden tun was wir können, um die Erinnerung wach zu halten. Wir werden beobachten und kritisieren, soweit uns das zusteht.

Primo Levi sagte 1983: „Diejenigen, die Auschwitz verleugnen, sind bereit es zu wiederholen.“ Das gilt auch für Stutthof.

 

 

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Foto:  http://www.pass-weingartz.de/hw.htm - Eigenes Werk (Originaltext: eigene Aufnahme) CC BY-SA 2.0 de

 

 

Autor*in
Antifa Linke Münster