Moral ist doch was Gutes

»So wie ihr hier über Feminismus redet, ist mir das einfach zu moralisch: Anerkennung diverser Identitäten hier, Reflexion der eigenen Privilegien da, das hat für mich wenig mit Politik zu tun«, sagt Person X. Person Y erwidert darauf: »Das verstehe ich nicht. Moral ist doch etwas Gutes. Und was könnte denn linker sein als niemanden diskriminieren und ausschließen zu wollen?«

Ob Feminismus, Rassismus, Internationalismus, die Zuwendung zu den Prekarisierten: Es gibt kaum ein Thema in der Linken, das nicht moralisch aufgeladen ist, keine Diskussion, deren Anfang und Ende nicht Fragen des richtigen oder falschen Verhaltens sind. Ist es nicht so, dass wir uns zu wenig diesen oder jenen (oder ihren »Kämpfen«) zuwenden, dass wir noch dieses oder jenes tun sollten, dass wir hier oder da noch diese Diskriminierung oder jenen Ausschluss übersehen haben? Wie schaffen wir es also, besser zu sein? Mehr über unsere Privilegien reflektierend, weniger ausschließend nach außen, korrekter sprechend, weniger ressourcenverbrauchend, ökologischer, besser, weil emphatischer im Umgang untereinander? Die moralischen Ansprüche, die selbst internalisierten und die von anderen an uns herangetragenen, auf deren Anerkennung wir uns angewiesen fühlen, scheinen endlos: Wir genügen nie, wir sind nie gut genug! Was bleibt, ist die traurige Mühe der täglichen Arbeit an uns selbst, um den Erwartungen besser zu entsprechen oder zumindest um unsere Ungenügen ein wenig zuzudecken: Wenn doch die andren nicht merken, was für Schweine wir in Wirklichkeit sind!

Dieser Moral geht es letztlich immer um sich selbst, sie kreist um das eigene Ich. Wir reden uns und anderen gerne ein, dass wir um der anderen willen empathischer und bessere Menschen sein wollen, aber letztlich geht es doch um unser eigenes Verhalten, dass vor den anderen bestehen kann oder eben nicht. Deshalb ist es auch nicht so sehr Schuld, die uns befällt, wenn wir bei unserem unmoralischen Verhalten, beim heimlichen Fleisch essen, beim Lachen über einen sexistischen Witz, beim politisch unkorrekten Spruch erwischt werden, sondern Scham: Wie konnten wir uns eine solche Blöße geben, was werden die anderen denken?

Wer kennt sie also nicht, die beklemmende Atmosphäre von Plena, in denen in den meisten Köpfen das gleiche vorzugehen scheint: Bloß nichts Falsches sagen, sich nichts anmerken lassen, was von anderen als diskriminierend empfunden werden könnte, am besten keine Gemütsregungen zeigen, die etwas anderes zum Ausdruck bringen als eine angestrengt freundliche Aufmerksamkeit, die darüber wacht, dass hier im Raum nichts geschieht, womit sich Menschen unwohl fühlen könnten. Auch dass ist also eine Seite der Moral: Sie schöpft ihre Lust nicht nur aus der Beobachtung und Kontrolle des eigenen Verhaltens, sondern auch aus dem Vergleich mit den anderen: Wenn ich schon nicht moralisch vollkommen bin, so sind es doch die anderen auch nicht, und zumindest bin ich ein moralisch höher stehender Mensch, wenn ich sie auf ihre Verfehlungen hinweisen und so beschämen kann. Mit der Moral geht schließlich, das wissen wir spätestens mit Nietzsche, beides einher: die Traurigkeit und der Sadismus.

Und genauso passt die Moral in eine neoliberal hervorgebrachte Subjektivität und jene narzisstische Persönlichkeitsstruktur, die von dieser Subjektivität hervorgebracht wird. Sie reproduziert deren Streben nach ständiger Selbstoptimierung, ja sogar die Tatsache, dass diese Selbstoptimierung notwendig auf dem Prinzip der Konkurrenz beruht. Das Feld, auf dem sich diese Konkurrenz bewegt, ist nun allerdings nicht mehr das Fortkommen in der bürgerlichen Welt, die Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft, sondern die ständige Mühe um das Gute. Mit dem Siegeszug der Grünen ist dieser moralische Anspruch des Politischen aber längst in die Mehrheitsgesellschaft eingezogen. Als unmoralisch inszeniert sich heute vor allem die Rechte, die auf Normen und Konventionen, die gesellschaftlich anerkannt sind, pfeift und ihre Inszenierung als moralischen Grenzübertritt begreift, der von der bürgerlichen Gesellschaft mit Verachtung gestraft wird. Aber ist die Moral dadurch automatisch links, weil sie von den Rechten verachtet wird? Moral ist schließlich immer auf ein Ensemble von Werten und Normen bezogen, an denen das Verhalten einzelner überprüft und aufgrund derer es als richtig oder falsch beurteilt wird. Eine emanzipatorische Analyse zeichnet sich dadurch aus, dass sie diesen in einer Gesellschaft oder auch nur in einem Kollektiv nachgeht, sie auf ihre Begründungen hinterfragt, ihre Funktionen zu durchdringen sucht. Links sein bedeutet an allem zu zweifeln, auch an den internalisierten wie den von uns erwarteten moralischen Ansprüchen der Linken. Dazu aber müssen wir im Denken für einen Moment fähig sein, von der Moral zu abstrahieren, um begreifen zu können, wie diese Welt strukturiert ist, mit welchen moralischen Vorstellungen wir unser Verhalten in ihr begreifen und warum das so ist.

Wenn wir dagegen in den Fragen der Moral steckenbleiben, werden wir die Repression nicht bekämpfen können, die uns doch manchmal mehr zu schaffen macht, als die der Justiz und Polizeiknüppel, weil sie sich in unser Inneres hineinbohrt: Die autodestruktive Scham über unsere Unvollkommenheit, unser Scheitern an unserem eigenen Ich-Ideal so wie die repressive Bloßstellung der anderen, denen wir lustvoll ihre Unvollkommenheit vor Augen führen und die wir moralisch wie politisch korrekt bloßstellen dürfen. Niemals werden wir jene lebenszerstörerischen Strukturen überwinden können, wenn wir uns in die Falle locken lassen, immer weiter an uns selbst zu arbeiten, um uns weniger schämen, um in unseren und den Augen der anderen besser bestehen zu können. Denn nichts wäre unpolitischer und harmloser angesichts einer Welt der Gewalt.

»Der Westen hat, und das ist ein so alter Trick,
die Moral eingeführt, um über Politik nicht
reden zu müssen. Moral, weil sie unter allen
möglichen Standpunkten ausgerechnet den
herzzerreißenden wählt, macht sich selber
handlungsunfähig; deshalb ist sie so beliebt.
Einen Vorgang moralisieren heißt, ihm seinen
Inhalt nehmen.«

Ronald M. Schernikau

 

Dieser Artikel ist Teil unserer Broschüre Kritik der Moral - Eine unmoralische Streitschrift, die ihr unter folgendem Link auf unser Hompepage findet:

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