"Corona politisch behandeln" - Aber wie?

Nada ist organisiert bei ROSA in Münster.

Einleitung

Der folgende Text wurde von den ersten Diskussionsveranstaltungen des Münsteraner Youtube-Kanals "digital radikal" angestoßen und versteht sich als ein schriftlicher Beitrag zu diesem Diskussionsprozess. Die Veranstaltungen und die darin geäußerten Positionen waren somit zwar "Stein des Anstoßes", gleichzeitig lassen sich hieraus oft auch generellere Positionen einer radikalen Linken ablesen, die in diesem Text Gegenstand der Auseinandersetzung sein sollen. Es geht also nicht um eine Kritik an einzelnen Genoss*innen oder politischen Gruppen, sondern vielmehr um eine Art Sich-Selbst-Hinterfragen und um das Öffnen eines Diskussionsraumes und eine Auseinandersetzung damit, wie wir linksradikale Politik und Praxis begreifen und sie erfolgreicher machen können. Meine Perspektive ist wie auch unsere Arbeit bei ROSA ist eine, die den Fokus auf Basisarbeit legt und kämpferische Prozesse der gesellschaftlichen Selbstorganisation als Möglichkeit eines revolutionären Wandels betrachtet. Diese Perspektive ist durch einen längeren Prozess der (Selbst-)Kritik einer linksradikalen Kampagnenpolitik entstanden, wodurch wir begonnen haben, eine Praxis der revolutionären Stadtteilarbeit zu entwickeln und umzusetzen. Auch wenn ich diesen Ansatz natürlich für richtig halte, soll nicht der Eindruck entstehen, ich oder wir hätten damit alle Antworten gefunden. Vielmehr stehen auch wir vor vielen offenen Fragen, in denen wir nur durch kollektive Diskussions- und Erfahrungsprozesse weiterkommen werden. Dennoch unterscheidet sich der Ansatz nachwievor von großen Teilen der Praxis in der radikalen Linken. Der Text ist daher thesenhaft und an einigen Stellen zugespitzt formuliert, weil es so vielleicht besser möglich ist, verschiedene Positionen deutlich zu machen, evtl. auch Widerspruch zu provozieren und einen weiteren Diskussionsprozess anzuregen. Ich und wir als ROSA freuen uns über Antworten, Reaktionen und Kritik.

1) Die Corona-Krise ist nicht nur Brennglas für das (Nicht-)Funktionieren des Kapitalismus, sondern auch für die Situation der radikalen Linken

 

Was nützt es mir, wenn ich gerade meinen Job verliere, die Miete nicht mehr bezahlen kann oder zuhause häuslicher Gewalt ausgesetzt bin, zu wissen bzw. gesagt zu bekommen, dass und warum das System nicht funktioniert? Welche Handlungsmöglichkeit wird mir dadurch eröffnet?

 

Ein Großteil der öffentlich geführten Diskussionen und Analysen der radikalen Linken bezieht sich momentan darauf zu vermitteln, wo und wie die Corona-Krise die Ineffizienz und die Schlechtheit des kapitalistischen Systems deutlich macht. Das ist richtig und wichtig: Die Krise spitzt die kapitalistischen Widersprüche innerhalb kürzester Zeit zu und es wird sehr offensichtlich, dass dieses System eben nicht primär im Sinne der Menschen funktioniert. Natürlich erhoffen wir uns in solchen Situationen eine breitere Zuhörer*innenschaft, die diese Auswirkungen nun zu sehen oder direkt zu spüren bekommt. Diese Prozesse verbleiben aber letztlich und mal wieder auf einer Ebene von Kritik und die radikale Linke in der Position der radikalen Kritiker*innen dieses Systems. Und es ist ja auch nicht so, dass vor der Krise nicht breite Teile der Gesellschaft in zunehmendem Maße von steigenden Mieten, Lohnkürzungen, Leiharbeit, Arbeitslosigkeit und Armut betroffen waren.

Was in größeren Krisen (jetzt ähnlich wie in der Finanzkrise nach 2008) also ebenso deutlich wird, ist die fehlende (Wirk-)Mächtigkeit und damit die Marginalität dieser radikalen Linken für eine breitere Bevölkerung. Die Unfähigkeit, selbstbewusst Alternativen zu formulieren, Organisierungsangebote zu machen, die sich auf den Alltag und die Alltagsprobleme der Menschen beziehen, sowie Forderungen zu formulieren und auch durchsetzen zu können, wird gerade wieder sichtbar. Vielmehr wird deutlich, wie weit die eigene Politik und die eigenen Diskurse von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt sind, wie wenig die radikale Linke über eine soziale Basis verfügt, in der sie verankert ist, von der mögliche Kämpfe tatsächlich ausgehen müssten. So wird Kritik (entgegen aller Selbstkritik der letzten Jahre) weiterhin aus dem Elfenbeinturm heraus formuliert und ist nicht in einer tatsächlichen alltagsbezogenen Praxis verankert. 


Die vielen solidarischen Hilfsnetzwerke, die Teil einer solchen Verankerung sein könnten, entstehen zur Zeit, ohne dass sich nennenswert radikale Linke darin beteiligen1. Etwas zugespitzt formuliert, wird da die radikale Linke wohl grad "von den Massen" selbst überholt. Was übrig bleibt, ist, unsere kritischen Analysen zu schärfen und in diesen solidarischen Aufbrüchen zunächst mal theoretisch ihre Widersprüchlichkeit darzustellen. Warum sollte sich so irgendjemand für uns interessieren?

 

2) Die Krise eröffnet Chancen und Möglichkeitsfenster für eine Machtausübung von unten
 

Dabei bieten Krisen auch immer neu aufkommende bzw. sich vergrößernde Möglichkeitsfenster für linksradikale Politik: Kapitalistische Widersprüche spitzen sich zu, wir sehen, welche Bereiche als systemrelevant gelten, das Dogma des „there is no alternative“ wird aufgebrochen, alternative Formen des Zusammenlebens werden denkbar. Prekäre Lebenssituationen werden als von vielen Leuten geteilte Erfahrungen sichtbar, existenzbedrohende Lebenssituationen vergrößern vielleicht die eigene Bereitschaft für radikalere Formen von Protest und Organisierung, Viele fragen sich nach Alternativen, es werden vermehrt Leute ansprechbar für unsere Kritik, einige fangen an sich selbst zu organisieren. 

Schafft es eine radikale Linke bzw. Bewegungen von unten nicht, in diesen Situationen diese Räume mit ihren Organisierungsangeboten, Inhalten und Forderungen zu füllen, werden sie in der Abwicklung der Krise wieder geschlossen werden, neoliberal und/oder autoritär  beantwortet. Zusätzlich droht die Gefahr der Nicht-Zurücknahme autoritärer Maßnahmen und somit einer nachhaltigen Stärkung des Staates. Dieses „Räume-Füllen“ - soll es erfolgreich und nachhaltig sein - kann nicht nur auf eine rhetorische oder diskursive Ebene beschränkt bleiben, sondern muss getragen sein von  tatsächlichen Organisierungsprozessen, dem Aufbau von materieller Gegenmacht. Schafft es eine radikale Linke, Formen der (kämpferischen) Selbstorganisation von unten in diesen Krisenzeiten zu vermitteln, auszuweiten und als tatsächliche praktische Alternative darzustellen, so ist das ein Aufbau von Gegenmacht, auf dem auch über Krisenzeiten hinaus aufgebaut werden kann.

 

3) Die radikale Linke interpretiert die Krise nur verschieden, es kommt aber darauf an die Welt zu verändern

 

Viele der aktuell öffentlich geführten Diskussionen der radikalen Linken um Corona erinnern an ein Uni-Seminar. Das Haupterkenntnisinteresse scheint darin zu liegen, die eigene Kapitalismuskritik auf die jetzige Krise anzuwenden, sie eventuell zu erweitern und Prognosen für die Zukunft anzustellen. Gesellschaftliche Wirklichkeit und Entwicklung ist aber keine Wetterprognose: Wir (ja auch wir als Linksradikale) sind Teil von der Gesellschaft. Eine bloße Analyse-Arbeit, die dann z.B. die Widersprüchlichkeit in solidarischen Praxen, die Gefahr der autoritären Formierung, das Umschlagen von Solidarität in Nationalismus, usw. feststellt, verkennt die eigene Subjektivität. Den Punkt, dass unter anderem wir es auch mit in der Hand haben bzw. in der Hand haben könnten, wie sich solche Prozesse in Krisenzeiten entwickeln. Auch wir sind Lohnabhängige, häufig prekär beschäftigt, Mieter*innen, Eltern2.  Auch wir sind Teil der Arbeiter*innenklasse, müssten uns eben auch so begreifen und beginnen eine Praxis als Klasse, nicht nur als radikale Linke zu entwickeln.

Stattdessen wird einmal mehr deutlich, wie abwesend in linksradikalen Diskursen ein Begriff oder ein Modell revolutionärer Veränderung ist bzw. wie sehr man sich von einem tatsächlichen Glauben an einen revolutionären Prozess verabschiedet hat. „Die Revolution“ wird zu einem weit entfernten Ziel in der Zukunft, den Glauben daran müssen wir uns immer wieder einreden und selbst bestätigen, damit er nicht in Vergessenheit gerät. Scheinbare Hauptaufgabe der radikalen Linken solle es sein, dieses Bewusstsein aufrechtzuerhalten.

Große Teile der radikalen Linken sehen ihre Rolle darin, durch das Hochhalten linksradikaler Kritik Möglichkeitsfenster für radikale Veränderung offenzuhalten. Das ist richtig und eine notwendige Funktion, die eine radikale Linke erfüllen muss. Wenn sich jedoch nun die Mehrheit der radikalen Linken auf diese Aufgabe fokussiert, wer soll dann der Akteur sein, von dem dieser Wandel real ausgeht? Wo beginnen revolutionäre Prozesse, die nicht nur (aber natürlich auch) auf einer Bewusstseinsebene stattfinden? Wie lässt sich von dieser Perspektive an Alltagserfahrungen der Menschen anknüpfen und ein gemeinsamer Weg beschreiten? Radikale Linke können nicht nur diejenigen sein, die eine theoretische Kritik hochhalten. Radikale Linke sollten vielmehr diejenigen Menschen sein, die in den Auseinandersetzungen stehen, dort mit den Menschen kämpfen und daraus eine Kritik am kapitalistischen Gesamtsystem formulieren und diese gleichzeitig dort verbreiten.

 

4) Ohne soziale Verankerung keine revolutionäre Veränderung, oder: Das Subjekt gesellschaftlicher Veränderung kann nur die Gesellschaft selbst sein

 

Ist jemand, die seit Monaten ihre Freizeit dafür aufbringt, die Infrastruktur für eine solidarische Einkaufshilfe zu stellen oder die 5mal die Woche für ihre Nachbar*innen einkaufen geht, offen dafür, wenn dann irgendwann ein*e radikale*r Linke*r (aus strategischen Gründen) um die Ecke kommt, um ihr zu sagen, dass es ja noch ganz gut und wichtig wäre, wenn sie gegen den Kapitalismus ist? Das ist absurd, das wissen wir selber. Aber darum macht‘s ja auch niemand...


Die praktischen Vorschläge, was in dieser Krise aus linksradikaler Perspektive zu tun sei, verbleiben allzu oft dabei, Kritik zu leisten oder Forderungen zu stellen. Wir machen also das weiter, was wir auch vor der Krise schon getan haben und auch danach weiter tun werden. Aber auch vor der Krise hat diese Praxis angesichts gesamtgesellschaftlicher Entwicklung in der BRD keine nennenswerten Erfolge hervorbringen können, die die Lebenssituation, Position oder den Organisierungsgrad der Arbeiter*innenklasse nennenswert verbessert hätte3. Sonst müsste man ja jetzt (in der Krise) nicht weitermachen wie bisher, sondern könnte auf eine breitere Basis zurückgreifen, in die Offensive kommen.

Zum anderen konnte man mal meinen, dass die Position, dass ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel nicht über oder mit dem Staat zu machen ist, in der radikalen Linken hegemonial wäre (und diskursiv ist sie das wahrscheinlich). Und dass eine Revolution nur durch Selbstorganisation von unten, durch solidarische und kämpferische  Praxen und gegen den Staat zu machen ist. Doch wozu führt der Vorschlag, jetzt aus unserer aktuellen Situation Forderungen laut zu machen? Was ist die Funktion solcher Forderungen? Wer wird damit adressiert? Wer kann die Forderungen real umsetzen? Wie wahrscheinlich ist das? Der Staat bleibt so letztlich der Akteur, auf den wir uns beziehen, der tatsächliche gesellschaftliche Veränderung um- und durchsetzen kann. Die radikale Linke gerät in die Funktion einer Fürstenerzieherin, einer Bittstellerin oder einer Politikberatung. Diese Selbstkritik wird durchaus formuliert, wobei das Allheilmittel immer zu sein scheint, dass wir danach noch eben anfügen, dass der Kapitalismus ja grundlegend das Problem ist und weg muss.

Das Allheilmittel sollten aber wenn überhaupt unsere selbstorganisierten, solidarischen und kämpferischen Prozesse von unten innerhalb der Gesellschaft, innerhalb unserer Klasse sein, im Alltag der Menschen, die ebenso wie wir von den Auswirkungen dieses Systems betroffen und wütend sind. Wir brauchen dafür auch einen klareren Klassenfokus, wir müssen als radikale Linke bewusster klarmachen, an wessen Seite wir in den alltäglichen Auseinandersetzungen stehen, dass wir in erster Linie mit denen kämpfen (wollen), die die Auswirkungen dieses Systems am stärksten zu spüren bekommen. Von Klasse wird in der radikalen Linken seit einigen Jahren wieder vermehrt gesprochen, jedoch oft auf eher einer analytischen Ebene: "Corona betrifft nicht alle gleich, das ist auch eine Klassenfrage". Geht es dann um die eigene Praxis, verschwindet die Klasse dann aber plötzlich wieder, spricht man von einem undefinierten Wir, stellt Forderungen auf als radikale Linke. Letztlich macht man so Stellvertreter- oder Parteipolitik anstatt sich auf den Aufbau von Selbstorganisation der Menschen zu fokussieren.

Natürlich ist es kein Automatismus, dass aus einer Praxis der Selbstorganisation eine radikale Kapitalismuskritik oder überhaupt eine emanzipatorische/linke Haltung und Praxis folgt4. Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir als Nachbar*innen UND Linksradikale Teil dieser Prozesse werden, dass wir solidarische Nachbarschaftsstrukturen aufbauen, usw. Wenn wir immer nur außerhalb dieser Prozesse stehen, wird es uns nicht möglich sein, sie zu beeinflussen. Und natürlich müssen wir anerkennen, dass all das widersprüchlich ist, aber dass wir trotzdem für unsere Interessen und konkrete Verbesserungen kämpfen, weil wir wissen, dass nur durch die so entstehenden kämpferischen Kollektive auch ein grundlegender Wandel möglich ist, und weil uns jeder kleine und (natürlich widersprüchliche) Erfolg Selbstbewusstsein und Hoffnung auf diesem Weg gibt.


 

5) Politik fängt nicht erst bei Kritik an, sondern auch schon in Prozessen gesellschaftlicher Selbstorganisation

 

In den Diskussionen, was nun angesichts der Corona-Krise Handlungsmöglichkeiten für eine radikale Linke sein können und auch in der Betrachtung von selbstorganisierten Praxen wie z.B. den Einkaufshilfe-Netzwerken, wird ein gewisses Bild davon deutlich, was wir unter Politik verstehen. Politik und politisches Handeln fängt bei vielen Linken dort an, wo wir uns auf der Ebene entweder von Kritik oder von explizit formulierten politischen Forderungen bewegen. Ein solidarisches Hilfsnetzwerk wird also dann politisch, wenn es über die konkrete Hilfe auch konkrete Forderungen stellt. Das was die radikale Linke macht, also diskutieren, analysieren und Positionen erarbeiten und verbreiten, ist dabei vielleicht der implizite Maßstab, in welche  Richtung sich solche Initiativen entwickeln sollen. 

Diese hier skizzierten Ebenen sind ein wichtiger und entscheidender Teil politischen Handelns und für jede politische Bewegung unerlässlich. Gleichzeitig machen wir damit aber auch dieses Politikverständnis zum Maßstab für die Politisierung anderer Menschen. Dabei besitzt dieses Modell doch einige blinde Flecken: Wie lässt sich über eine rein akademische Arbeit hinauskommen? Welche Prozesse spielen abseits vom expliziten politischen Bewusstsein eine Rolle? Welche Handlungen folgen aus diesem politischen Bewusstsein? Wie bauen wir reale (Gegen)Macht auf, um unseren Forderungen ein stückweit näher zu kommen?

Dieser Politikbegriff macht es uns schwer, das Progressive, das emanzipatorische Potenzial in alltäglichen Beziehungen, in gesellschaftlichem Bewusstsein und damit auch außerhalb unserer eigenen „Bewegung“ wahr- und ernstzunehmen. Wenn Politik erst innerhalb unserer Politgruppen beginnt, dann muss alles drumherum nicht politisch oder noch nicht politisch genug sein. Wir stehen uns so mit unserem Blick auf Gesellschaft und Möglichkeiten der Veränderung selbst im Weg, tragen zu einer gewissen Selbstmarginalisierung bei und machen uns letztlich handlungsunfähig bzw. schränken die Möglichkeiten für politisches Handeln deutlich ein.

 

Um diesen  Blick auf Gesellschaft und das Feld politischen Handelns für einen kleinen Moment zu öffnen, schlage ich vor, sich die Gesellschaftsanalyse von Abdullah Öcalan, dem Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung anzusehen. Öcalans Bezugsspunkt ist dabei die natürliche Gesellschaft, eine Art egalitäre Gesellschaft ohne Klassen und Unterdrückung, die vor 5000 Jahren existierte und in der er viele Werte findet, die auch wir für eine befreite Gesellschaft anstreben. Öcalan geht davon aus, dass alle darauf folgenden etatistischen Klassen-Gesellschaften aus dieser Grundlage entstanden sind. Der entscheidende Punkt für ihn ist aber, dass diese natürliche Gesellschaft nie aufgehört hat zu existieren, dass die staatlichen Gesellschaften immer wieder von dieser Grundlage zehren und ihrer auch bedürfen, dass diese Grundlage aber nie ganz verschwunden ist und sich auch heute noch in gesellschaftlichen Werten und Praxen finden lässt. Für ihn muss sich jede revolutionäre Bewegung diesen „Überbleibseln“ bewusst sein und ein Weg hin zu einer solidarischen Gesellschaft muss hierauf aufbauen5.

 

Ein solcher Blick auf Gesellschaft würde es uns beispielhaft erlauben, in spontan entstehenden solidarischen Praxen ein Zum-Vorschein-Kommen dieser Werte der Solidarität und Kollektivität zu sehen. Wir würden wegkommen von einem Blick, der unmittelbar mit dem Erscheinen dieser Praxen ihre Widersprüchlichkeit feststellt und die Gefahren einer Vereinnahmung und ein Zuarbeiten für den Staat kritisiert. Wir würden begreifen, dass hier eine Tradition zum  Vorschein kommt, die für unser Ziel einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft enormes Potenzial bietet, natürlich  nicht widerspruchsfrei ist, aber genau deshalb auch von uns verteidigt und zu kämpferischen Strukturen ausgeweitet werden muss. Dass hier Solidarität praktisch wird, einen unmittelbaren Unterschied im Alltag der Menschen macht und in Beziehungen Ausdruck findet, die zunächst einmal einen Gegensatz zum staatlichen passivierenden Paradigma darstellen.


 

6) Was können wir lernen?

 

Stellen wir uns für einen Moment vor, die radikale Linke in Münster würde über eine oder mehrere schlagkräftige Organisationen verfügen. Organisationen, die Teil der realen Auseinandersetzungen sind und darin Partei ergreifen. Organisationen, die schon seit Jahren Basisarbeit in den Stadtvierteln machen, kleinschrittig begonnen haben, hier die Menschen anhand ihrer Interessen zu organisieren und so das Bewusstsein vermittelt, dass wir eben Dinge verändern können, wenn wir uns nur solidarisch zusammentun und dafür kämpfen. Die ebenso das Bewusstsein vermitteln, dass dieses gesamte System falsch ist und die Ursache für unsere Probleme nur durch eine Revolution überwunden werden kann. Und dass wir für einen solchen Wandel nicht auf den Staat setzen können, das müssen wir schon selber machen. Indem wir uns selbst organisieren, selbst unseren Alltag in die Hand nehmen. Selbst nach und nach über unsere Lebensmittel (im weitesten Sinne) verfügen können.

Stellen wir uns vor, wie es möglich wäre, mit dieser Verankerung in Krisen wie der aktuellen zu agieren. Diese radikale Linke könnte von sich aus in kürzester Zeit Hilfsnetzwerke in den verschiedenen Vierteln aufbauen, die zunächst mal die dringensten Probleme abfangen. Sie würde darauf aufbauend aber auch deutlich machen können, dass in solchen Krisenmomenten wieder einmal deutlich wird, dass der Staat im Zweifel nicht für uns sorgt, dass wir es im Zweifel selber machen müssen. Und dass wir das aber auch können! Warum dann also nicht immer so? So würde es möglich, sich offensiv und politisch in die stadtweiten solidarischen Hilfsnetzwerke einzuklinken, genau in dieser Hilfe das Scheitern von Wirtschaft und Staat aufzuzeigen, und: durch die eigene Praxis einer Selbstorganisation in den Stadtvierteln gleichzeitig Anfänge einer Alternative aufzuzeigen. Krisenmomente wie diese würden uns die Chance geben, diese kollektiven Strukturen schlagartig in einem viel größeren Ausmaß zu vermitteln und im besten Fall ausweiten und vernetzen zu können. Es könnten stadtweite Rätestrukturen entstehen, die in solchen Situationen qua Überforderung des Staates und einem Rückhalt in der Bevölkerung vielleicht sogar in der Lage wären, bestimmte Forderungen durchzusetzen, die ihrer Arbeit oder den Menschen zugute kommen. 

Stellen wir uns also vor, dass wir uns gemeinsam mit den Menschen von unten selbst organisieren, in der Lage sind Widersprüchlichkeiten auszuhalten, aber wir wissen, dass nur in den Vierteln und Betrieben der Ort ist, wo wir Protest organisieren können, der dann auch tatsächlich von Betroffenen selbst getragen wird. Wo ausgehend von diesen Kämpfen auch radikale Kritik formuliert werden kann, aber eben Schritt für Schritt, in einem gemeinsamen Kampf und Lernprozess. Dann würden wir vielleicht auch mal beginnen, nicht im ersten Schritt in akademischer Manier die Widersprüche von Selbstorganisation aufzuzeigen, sondern das Ungehorsame, das Subversive in diesen Praxen zu sehen. Dass es einen Riss gibt zwischen den Menschen und dem Staat. Denn dieses Potenzial existiert dort, kommt dort zum Vorschein, wo sich Menschen aus Solidarität zusammenschließen.

 

 

1 natürlich sind auch viele von uns in unseren Nachbarschaften engagiert, haben Hilfszettel aufgehangen, sprechen mit Nachbar*innen, Kolleg*innen. Was jedoch oft nicht deutlich wird ist, dass wir radikale Linke sind, wir uns also auch in dieser „Arbeit“, diesem Engagement als ebensolche linksradikalen Personen verstehen. In diese Hilfsangebote und Netzwerke auch linksradikale Positionen reintragen und diskutieren. Viele von uns sind in solch ehrenamtlichen und selbstorganisierten Strukturen aktiv, „Politik machen“ findet dann aber doch in der klassischen autonomen Kleingruppe statt.

2 Tendenz, dass die Distanzierung vom Selbst aus der Uni (v.a. Sozialwissenschaften) dabei in die Form der eigenen Politik übernommen wird.

3 Das wird ja auch selbstkritisch, z.B. von dem Genossen von Eklat festgestellt.

4 Und selbst wenn: Was sollten diese Leute denn dann tun? Was ist denn eine antikapitalistische Praxis? Darauf haben wir ja selbst keine Antwort. Das macht nicht nur uns, sondern auch Leute, die auf dem Weg hin zu einem solchen Bewusstsein sind, handlungsunfähig. Da ist es doch verständlich, dass Leute erstmal das machen, was in ihren Augen Sinn hat und richtig und solidarisch ist, ohne einen (abstrakten) Antikapitalismus vor sich herzutragen.

5 Ähnliche Ansätze finden sich z.B. auch bei John Holloway: Anti-Macht, Silvia Federici: Commons. Natürlich lässt sich diese Analyse kritisieren, blinde Flecken finden, die für eine revolutionäre Bewegung unter hiesigen gesellschaftlichen Bedingungen entscheidend sein können. Aber dennoch ist es eine Möglichkeit, alternative Formen der Gesellschaftsanalyse denkbar zu machen und die eigene zu hinterfragen.

Autor*in
Nada