Vorwort
Im August 2015 veröffentlichten wir unseren ersten Text unter dem Titel „...wir müssen reden!“. Vieles ist seitdem passiert. Geschrieben haben wir den Text vor allem aus einem Gefühl der Ohnmacht, dem Gefühl dieser unterdrückerischen und mörderischen Welt als Linke kaum etwas entgegenzusetzen, aber auch aus dem Gefühl der Hoffnung. Hoffnung darauf, mit vielen Anderen Wege zu finden, eine freie und lebenswerte Welt zu errichten. Eine Hoffnung, die immer wieder aufkommt, wenn wir Freund*innen und Genoss*innen treffen, gemeinsam auf der Straße sind, an Orten wie der Selber-Machen-Konferenz in Berlin oder der Strategiekonferenz 2016 in Münster zusammenkommen, um über die Ziele und Strategien unserer Arbeit zu sprechen. Eine Hoffnung, die aus der Überzeugung entsteht, dass eine andere Welt möglich ist. Es wäre gelogen und nicht richtig zu sagen, dass nur das Gefühl der Hoffnung übrig geblieben wäre. Zu oft macht sich Verzweiflung über das, was geschieht, und Angst vor dem, wo das noch alles hinführt, breit. Wir stehen mitten in dieser Welt und wissen kaum noch, wo wir vor lauter Katastrophen zuerst hinschauen sollen. Während seit Jahren in Syrien ein blutiger Krieg tobt, erstarken in Europa faschistische und rassistische Bewegungen. Anstatt jene, die von Grausamkeit, Elend und Tod getrieben werden und hier ein friedliches Leben suchen, als Freund*innen zu empfangen, brennen längst wieder Häuser und Menschen werden durch Straßen gehetzt. Und inzwischen sitzen jene, die in Heidenau, Dresden, Duisburg und Köln zündeln und hetzen, in etlichen Landtagen und im Bundestag. Die deutsche Regierung unterdessen verschärft weiter die Asylgesetze, schiebt weiter Menschen in den Tod ab und setzt gemeinsam mit der EU alles daran, die Grenzen Europas hermetisch abzuriegeln, wodurch tausende Menschen im Meer ertrinken. Gerne wird sich hierzulande über Trumps Mauer zu Mexiko echauffiert, Europa hat schon längst eine Mauer. Eine Mauer aus Frontex, Stacheldraht und Brandsätzen. Eine Mauer aus Grausamkeit, Elend und Tod.
Zur selben Zeit wird aber auch alles daran gesetzt, dass Waren auf riesigen Schiffen, die unsere Meere, und Lastwägen, die unsere Luft verseuchen, von A nach B gebracht werden können. So frei wie möglich, als würden Grenzen kaum existieren. Die Arbeiter*innen, die diese Waren unter denkbar schlechten Bedingungen produzieren müssen, können nicht über sie verfügen. Millionen Frauen* verrichten überall auf der Welt Arbeiten, die weder entlohnt noch als solche anerkannt werden. Frauen* werden nicht allein durch (un-)bezahlte Care-Arbeit ausgebeutet, sondern ihre Körper auch als Ware betrachtet und sind tagtäglich unzähligen Gewalttaten und Übergriffen ausgesetzt, zuhause und auf der Straße. Die Produktion ist zudem vielerorts geprägt von ausbeuterischer Kinderarbeit, massiver gesundheitlicher Belastung und einer Bezahlung, die nicht zum Leben reicht.
Aber auch diesen Ortes setzt die Regierung im Sinne der Profitmaximierung alles daran, dass es den Arbeitenden schlechter geht. Billiglohn, Zeitarbeit, Massenentlassungen und Tarifeinheitsgesetz. Die Einen schuften sich für einen beschissenen Lohn kaputt, andere müssenHartz IV beziehen. Beide müssen jeden Cent dreimal umdrehen, während sie sich von SPDler*innen die Lüge der „sozialen Gerechtigkeit“ anhören können und von CDUler*innen, dass Hartz IV zum Leben durchaus ausreichend sei. Und wieder zeigt sich eine Welt voller Grausamkeit, Elend und Tod.
Diese Gesellschaftsordnung schadet aber nicht nur dem Menschen, sondern auch der Natur. Wälder werden abgeholzt, Gewässer und Böden vergiftet, die Erde wird auf der Suche nach Rohstoffen durchbohrt und aufgerissen bis riesige Löcher dort klaffen, wo einst blühende Landschaften standen. Autos, Schiffe, Flugzeuge, Kraftwerke und Fabriken verpesten die Luft, die diese Welt aber doch zum Atmen so dringend braucht.
Die Welt, auf der wir alle leben wird zugrunde gerichtet und scheint im Chaos zu versinken. Einige Monate bevor wir unseren ersten Text veröffentlicht haben wurde die kurdische Stadt Kobane in Rojava von den Einheiten der YPG/YPJ und ihren Verbündeten von den mörderischen Daesh-Banden befreit. Auch in diesem Moment, in dem diese Zeilen geschrieben wurden, fielen Bomben auf Afrin in Rojava, welches seit Ende Januar 2018 von den Truppen des türkischen Regimes und ihren verbündeten Banden attackiert wird. Die Menschen in Rojava haben dort, bis 2012 unter dem Assad-Regime lebend, nun seit einigen Jahren in einer massiven Kriegssituation ein neues Gesellschaftsmodell aufgebaut. Der demokratische Konföderalismus, eine Idee aus der kurdischen Bewegung und maßgeblich von Abdullah Öcalan stammend, wird dort verwirklicht. Diese Idee, die auf Demokratie, Selbstorganisation, Ökologie und Geschlechterbefreiung basiert und viel mehr noch ihre Umsetzung sowie der Kampf dafür ist für uns ein Leuchtturm der Hoffnung. Es zeigt uns, dass eine andere, eine schöne und lebenswerte Welt möglich ist. Auch in den zapatistischen Gemeinden in Chiapas in Mexiko wird weiterhin eine andere Welt verwirklicht. Eine Welt, an der alle gleichermaßen teilhaben können und die all der Grausamkeit, dem Elend und dem Tod zum Trotz existiert. Aber nicht bloß an diesen beiden Orten, nein: überall auf der Welt gibt es Menschen, die für ein anderes Leben einstehen und kämpfen.
Die Landlosenbewegung MST in Brasilien, die FOL in Argentinien, die ZAD in Frankreich, FLTI*/Frauen*bewegungen in der Türkei und den USA, Selbstverwaltungsstrukturen in Italien und Griechenland aber auch z.B. die kommunalen und kollektiven Strukturen im Wendland zeigen uns positive Beispiele eines selbstverwalteten Lebens auf. Und auch (überregionale) Strategiediskussionen, Demonstrationen und Kampagnen, z.B. gegen G20 in Hamburg oder die Klimabewegung, vermehrt aufkommende Ansätze von Basisarbeit z.B. in Stadtteilen zeigen, dass Menschen weiterhin gegen diese Verhältnisse kämpfen und nach Wegen hin zu einem besseren Leben suchen. All diese Kämpfe, all diese Menschen, all diese Verbündeten sind Leuchttürme der Hoffnung.
Wenn wir sagen: wir haben keine Chance, dass wir machtlos sind gegen die Vorherrschaft des Kapitalismus, dass wir also keine Zukunft haben, dann können wir uns natürlich hinstellen, nicht handeln und die düsteren Prognosen für die kommende Zeit werden wahr werden, da wir ihnen kaum etwas entgegensetzen.
Wenn wir aber sagen: wir haben durch unser Handeln die Macht, unsere eigene Zukunft zu gestalten und den düsteren Prognosen haben wir eine ganze Welt entgegenzusetzen, dann haben wir eine Chance eine Welt voll Menschlichkeit, Schönheit und Leben zu erkämpfen.
Komitee für eine revolutionäre Perspektive Münster im Mai 2018
////////
In diesen Tagen sind wir in Gedanken insbesondere bei den mutigen Kämpfer*innen, welche die Revolution in Rojava verteidigen – euer Kampf gibt uns und vielen anderen auf der ganzen Welt Hoffnung! Halt stand freies Rojava!
///////
Zu uns
Wir sind Teil einer radikalen Linken, die für eine gerechte, basisdemokratische und herrschaftsfreie Gesellschaft für Alle kämpft. Dieses Ziel und die damit verbundenen Werte einen uns in den verschiedensten Kämpfen. Gerade dieses Gefühl von Gemeinsamkeit haben wir in unserer politischen Praxis und den Kämpfen der letzten Jahren jedoch oft vermisst. Nach mehreren Jahren des recht vereinzelten Politik-Machens in Kleingruppen und Teilbereichs-Organisierungen wurde uns klar, dass wir uns übergreifender organisieren und strategischer handeln müssen, wenn wir wirklich eine andere Gesellschaft schaffen wollen.
Seit einiger Zeit beteiligen wir uns daher an den Strategie- und Organisierungsdebatten in der radikalen Linken. Wir freuen uns besonders, in Münster seit Anfang 2017 Teil des Strategietreffens zu sein, welches aus der lasst-uns-reden-Konferenz hervorgegangen ist. In diesem Zusammenhang haben wir viele der auch hier aufkommenden Fragen mitdiskutiert und planen zur Zeit den gemeinsamen Einstieg in die Stadtteilarbeit1. Wir beanspruchen mit diesem Text nicht, die Positionen des Strategietreffens zu repräsentieren, sondern er ist unser Ergebnis aus den Diskussionen der letzten zwei Jahre, wie auch ein weiterer Beitrag zur bundesweiten Debatte. Wir sind all den Freund*innen und Genoss*innen sehr dankbar, die uns mit ihren Kämpfen und Beiträgen wichtige Impulse gegeben haben und fortlaufend geben.
Nicht alles in diesem Text ist unbedingt neu, einiges wurde bereits gesagt und auch wenn wir von unseren Positionen überzeugt sind, sind wir uns in einigen Teilen auch noch unsicher bzw. können sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht vollständig ausführen. Der Text soll zukünftig ein Bezugspunkt für die Reflexion unserer Praxis sein, genauso lassen sich aber diese theoretischen Überlegungen auch nur anhand einer Praxis auf ihre Umsetzbarkeit überprüfen. Unser Ziel ist es daher, diese theoretischen Überlegungen in eine praktische Arbeit zu überführen. Gleichzeitig wollen wir hier in Münster auch den Diskussionsprozess um die Fragen nach Strategie und Organisierung weiterführen und wünschen uns, dass durch einen solchen Prozess Gruppen enger zusammenrücken.
Wir hoffen, dass dieser Text von unseren Genoss*innen vor allem als eine Einladung verstanden wird, sich an der Debatte zu beteiligen, zu kritisieren und zu ergänzen.
Utopie
Wir haben den Wunsch nach einer Welt frei von Ausbeutung und Herrschaft, in der die Menschen nach zentralen Werten der Würde, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Ökologie und Solidarität zusammenleben. Aus diesen Werten, nach denen wir arbeiten und auf die wir hinarbeiten wollen, und die uns auch als radikale Linke abseits aller Spaltungen verbinden, lässt sich für uns nicht das eine klare Gesellschaftssystem ableiten, geschweige denn, dass wir dieses vorzeichnen können. Daher denken wir, dass wir unsere Arbeit zum jetzigen Zeitpunkt nicht an einem schon bis ins Detail vorgefertigten System ausrichten sollten, welches dann letztlich nur noch „von oben“ durchgesetzt werden müsste. Das Bild einer emanzipatorischen Gesellschaft kann nicht getrennt von dieser entwickelt werden, sondern muss in einer gesellschaftlichen Praxis entstehen. Wir sind der Überzeugung, dass ein gesellschaftlicher Wandel, der keine erneuten Herrschaftsstrukturen hervorbringt, nur von unten stattfinden kann.
Eine Gesellschaft frei von Herrschaft bedeutet für uns, dass in einer solchen immer Wandel möglich sein muss. Durch die organisatorischen Strukturen einer solchen Gesellschaft muss gewährleistet sein, dass Entscheidungen von unten getroffen und umgesetzt werden - und sich alle Menschen an diesen Strukturen beteiligen können. Ein Weg hin zu diesem Ziel kann für uns dementsprechend nur einen permanenten Prozess des Handelns und Aushandelns bedeuten, durch den wir uns einer "revolutionären Gesellschaft" stetig annähern. Natürlich haben wir dennoch Vorstellungen von einer kommenden Gesellschaft, die uns in einem Kampf für eine bessere Welt motivieren und Orientierung geben.
Ob in der Pariser Kommune 1871, in den deutschen Arbeiter*innen- und Soldatenräten 1918, den Sowjets in der damaligen Sowjetunion 1905/1917 oder aktuell in den Gebieten der Zapatistas in Chiapas, Mexiko und in Teilen von Kurdistan, vor allem in Rojava oder dem Shengal, zieht sich die Idee der gesellschaftlichen Selbstverwaltung mittels Räten durch die Geschichte revolutionärer Bewegungen. Obgleich es zwischen all diesen Ereignissen mal mehr mal weniger große Unterschiede in Idee, Entstehung und Umsetzung gibt und viele nach kurzer Zeit zerschlagen wurden, teilen sie alle die Vorstellung von einem selbstbestimmten und besseren Leben.
In all diesen Bewegungen zeichnet sich das Bild einer sich selbst von unten organisierenden und verwaltenden, einer sich in einem Rätesystem organisierenden basisdemokratischen Gesellschaft ab. Eine Gesellschaft, in der alle Menschen das Recht haben, sich direkt und ohne nötige Interessenvertretungen an Entscheidungen, die sie betreffen, zu beteiligen. Wo die Menschen dazu ein Recht auf den Zugang zu Informationen haben und das Recht, sich gleichberechtigt zu äußern. Eine Gesellschaft, in der ökonomische Aufgaben, vor denen eine Gesellschaft steht, kollektiv und selbstorganisiert angegangen werden, das Privateigentum überwunden sowie Produktionsmittel vergesellschaftet werden. Wo Unterdrückungsverhältnisse wie Rassismus und das Patriarchat, die die jetzige Gesellschaft durchziehen, überwunden werden. Eine Gesellschaft, in der der Entscheidungsort die kleinstmögliche Ebene ist und jene die Beschlüsse treffen, die unmittelbar mit ihren Folgen konfrontiert sind. Eine Gesellschaft, in der eine andere Form der Debatte stattfindet, die nicht auf bloße Wahlen per Mehrheitsprinzip setzt, sondern versucht, möglichst viele Stimmen in Entscheidungen miteinzubeziehen. Eine Gesellschaft, in der es eine Koordinierung und Kooperation der verschiedenen Basisstrukturen in einem größeren Rahmen gibt, die jedoch ausschließlich mittels imperativen Delegationsmandaten und Rotationsprinzipien stattfindet. Die Entscheidungskompetenzen verbleiben damit bei der Basis, sodass sich nicht ein von der Gesellschaft abgetrennter Bereich der Entscheidungsfindung und -umsetzung entwickeln kann.
Unsere Idee besteht also nicht darin, viele kleine vereinzelte autonome Inseln zu schaffen, sondern den Aufbau von diesen Strukturen als einen Teil eines gesamten Gesellschaftssystems zu begreifen. Alleine um eine Konkurrenz zwischen progressiven Strukturen zu verhindern, ist ein Zusammenschluss der verschiedenen Basisstrukturen nötig, wie es z.B. eine Konföderation bestehend aus verschiedenen kommunalen Räten gewährleisten kann.
Zentrale Bedeutung muss in diesen Strukturen den Werten Würde, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Ökologie und Solidarität zukommen. Diese Werte müssen in der Gesellschaft verankert sein und in den Entscheidungsfindungen eine zentrale Rolle spielen und damit einen Punkt der Orientierung bilden. Ohne diesen Kern, den Bezug auf die Werte, laufen all unsere Bemühungen Gefahr, nicht nur zu scheitern, sondern auch in einem uns entgegengesetzten Sinne instrumentalisiert zu werden.
Was die einzelnen Werte dann konkret bedeuten, wie diese sich in Strukturen niederschlagen, was wir unter ihnen verstehen, kann und sollte erst in einem gemeinsamen Prozess ausgehandelt werden, da unser Blick auf die Welt und auch die konkrete Bedeutung von Werten nicht universell ist.
Dafür müssen wir gesellschaftliche Strukturen schaffen, die eine solche Suche nach kollektiven Antworten ermöglichen, genauso wie sie in der Lage sein müssen, dafür materielle Strukturen zu verändern, die z.B. Gerechtigkeit heute verunmöglichen. Die bloße Idee eines guten menschlichen Zusammenlebens muss nicht neu erfunden werden oder gar den Menschen beigebracht werden, sondern existiert bereits in unserem Alltagsbewusstsein. Es sollte uns vielmehr darum gehen, in einem Prozess des gemeinsamen Handelns auf der Grundlage eben dieser Werte die Erfahrung zu stärken, dass eine solche menschliche Welt real möglich ist.
All diesen Ansprüchen an eine gute Gesellschaft kommt das aktuelle kapitalistische System und die staatliche Form des Regierens keinesfalls nach. Ein System, in dem unser Leben und unsere Möglichkeiten zur Teilhabe von Eigenschaften wie Klasse, Geschlecht, Sexualität, Aussehen, Herkunft, formelle Bildung undundund bestimmt wird. Unsere Utopie bedeutet damit zugleich, den bestehenden Ungerechtigkeiten den Kampf anzusagen und radikal an ihrer Überwindung zu arbeiten. Denn wie sollen wir auf Augenhöhe miteinander diskutieren und lösungsorientiert im Sinne der Gesellschaft arbeiten, wenn Wohlstand und Ressourcen so ungleich verteilt sind, wenn die Interessen von Unterdrückten übergangen werden und Herrschaftsverhältnisse2 bestehen?
Kritik an bisheriger linksradikaler Praxis
Viele der aktuell prominentesten Formen linksradikaler Praxis stoßen auf dem Weg zu dieser Utopie an ihre Grenzen. Daher wollen wir hier eine kurze Kritik verschiedener Formen liefern, vor deren Hintergrund wir unsere Ideen für eine "neue" Form einer revolutionären politischen Praxis und Organisierung entwickeln. In den letzten Jahren wurde diese Kritik im Zuge der bundesweiten Strategiedebatte3 schon an vielen Stellen formuliert, weshalb wir hier einige Punkte nur kurz anschneiden wollen. Uns ist es wichtig, dass die folgenden Punkte nicht als eine Fundamentalkritik an den politischen Ansätzen zu verstehen sind. Viele Praxisformen haben in bestimmten Kontexten ihre Wichtigkeit und können wichtiger Teil einer revolutionären Bewegung sein. Dennoch betrübt uns der Eindruck, dass die Praxis der verschiedenen Gruppen, die sich vielleicht mal mehr, mal weniger in folgende "Strömungen" einordnen lassen vereinzelt voneinander stattfinden und eine revolutionäre Perspektive so nicht entwickelt werden kann bzw. oft gar nicht im Fokus der politischen Praxis steht.
Im Wesentlichen haben wir vier Kritikpunkte: an Kampagnenpolitik, etatistischen Ansätzen, an der subkulturellen Linken und der Idee des Insurrektionalismus.
Kampagnenpolitik
Ein großer Anteil des Arbeitsaufwandes der radikalen Linken erschöpft sich in Kampagnenpolitik: Blockupy, Ende Gelände, gegen die AfD, gegen den G20-Gipfel. Ziel dieser Kampagnen ist es meist, den gesellschaftlichen Diskurs zu beeinflussen, eigene Inhalte sichtbar zu machen und durch sowohl medienwirksame als auch praktisch erfahrbare Aktionen zu politisieren. Während die meisten Kampagnen gegen gesellschaftliche Strukturen und Akteure organisiert sind, wird selten mit eigenen Zielen aufgefahren. Das macht es schwer, eigene Inhalte sichtbar zu machen, da die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit oft nur soweit geht, die radikale Linke als Gegnerin der Strukturen wahrzunehmen. Unsere eigenen Ziele kommen dabei, wenn überhaupt, nur sehr abstrakt rüber: Wir sind gegen den Kapitalismus, gegen Rassismus, gegen das Patriarchat, gegen Kohlekraft, gegen Studiengebühren, etc. In den Kampagnen wird jedoch nur selten deutlich, wie wir uns mögliche Alternativen vorstellen und noch seltener ermächtigen wir uns selbst und andere zu den Akteuren, die unsere Wünsche selber umsetzen4. Viel zu oft bleibt es bei Appellen an Parteien, die Wirtschaft oder noch abstrakter an die Gesellschaft insgesamt.
Kampagnen sind immer mit der Schwierigkeit konfrontiert, einen konkreten Anlass, einen konkreten Feind oder konkrete Forderungen formulieren zu müssen. Dass viele der in Kampagnen thematisierten Probleme gesellschaftliche sind, und es einer Überwindung der gesamten Verhältnisse bedarf, lässt sich durch diese Form der Praxis alleine nur schwer vermitteln.
Kampagnenpolitik für sich genommen bleibt so schnell entweder reformistisch oder sehr abstrakt. Ein wichtiger Aspekt der Kampagnen ist es, Menschen über Missstände aufzuklären. Häufig findet so eine recht einseitige Kommunikation statt, die sich um genau das eine Thema der Kampagne dreht. Das Entstehen von wechselseitigen Beziehungen, in denen unterschiedliche Menschen als Ganzes miteinander in Kontakt treten und sich gemeinsam organisieren, ist durch Kampagnen, so wie sie zur Zeit geführt werden, nur schwer möglich.
Wir glauben jedoch nicht, dass es an mangelndem Wissen in der Gesellschaft liegt, dass es zu keinem nennenswerten Widerstand kommt. Vielmehr existiert das Wissen darüber, dass es so nicht weitergehen kann, bei einem Großteil der Menschen. Was fehlt ist eine Alternative und die Hoffnung, diese gemeinsam erreichen zu können.
Etatismus
Der Begriff des Etatismus (frz.: État = Staat) benennt die politische Annahme, dass ökonomische oder allgemein gesellschaftliche Probleme durch staatliches Handeln zu lösen seien. Aus einer radikalen Kritik am Staat und seiner Art zu regieren heraus, lehnen wir den Fokus auf den Weg des Parlamentarismus für eine revolutionäre Bewegung ab. Auch wenn es in bestimmten Situationen Sinn machen kann, über parlamentarischen Einfluss zu verfügen, um beispielsweise den Handlungsspielraum einer Bewegung zu vergrößern oder auch ganz reale Verbesserungen von Lebenssituationen zu erwirken, liegt eine Gefahr darin, diese Form der Politik mit einem expliziten Machtinteresse zu betreiben. Wir sehen den Staat als gefangen in der kapitalistischen Logik, in dem Politiker*innen nicht nur aus bösem Willen handeln, sondern maßgeblich aufgrund der Sachzwänge einer Standortlogik im globalisierten Kapitalismus. Diese Zwänge und auch die Form eines Regierens von oben gilt es für uns zu brechen, nicht nur die Politiker*innen, die sie ausführen, auszutauschen.
Unser zentraler Kritikpunkt an diesen beiden Ansätzen ist der Versuch, einen gesellschaftlichen Wandel von oben anzustoßen bzw. sich an Akteure zu richten, die eine solche Form der Politik praktizieren. Wir denken, dass wir ein kämpfendes Handeln, wie es sich z.B. in Kampagnen findet, durch ein aufbauendes Handeln ergänzen müssen, welches nur im direkten Kontakt mit den Menschen, die wir erreichen wollen, stattfinden kann. Die folgenden Ansätze, die wir als subkulturell zusammenfassen, tragen mitunter ähnliche Kritiken und die Idee eines gesellschaftlichen Wandels von unten in sich - schütten jedoch unserer Meinung nach zu viele Kinder mit dem Bade aus.
Subkultur
Die subkulturelle Linke schafft sich kleine identitäre Blasen, die sich aus einer Ablehnung von Autoritäten, oft auch der Gesellschaft als Ganzem, konstituiert und reproduziert. Aus dieser marginalen Position, die keine großen Ambitionen hat, in die oft verhaszte Gesellschaft zu wirken, lässt sich für uns kein revolutionärer Wandel der Gesellschaft denken. Schnell dreht sich die eigene Initiative dann um sich selbst: Durch das Veranstalten von subkulturellen Konzerten, subkulturelle Orten, die Schaffung von eigenen Symbolen und Codes, die für die Mitmenschen außerhalb der eigenen Szene nicht mehr zu verstehen sind.
Diese Strukturen sind zwar stark ausschließend, haben aber in dieser Welt mit all ihren Diskriminierungs- und Unterdrückungsmechanismen selbstverständlich ihre Berechtigung. Ihre Existenz ist sowohl für viele Menschen als Schutzraum wichtig, wie auch für die radikale Linke insgesamt. Hier kann Kraft getankt und experimentiert werden für ein Leben in einer anderen Gesellschaft. Diese praktische Erfahrbarkeit von Kollektivität und Solidarität ist sicherlich ein wertvoller Effekt von verschiedenen Subkulturen. Das Problem ist jedoch, dass sich diese Kollektivität oft aus einer Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft speist und so ein Blick dafür blockiert wird, dass auch alle Menschen außerhalb unserer Strukturen von der kapitalistischen Moderne betroffen sind und es eine gesellschaftliche Unzufriedenheit gibt, die sich immer wieder in sozialen Kämpfen, aber auch in ganz alltäglichen Verweigerungshandlungen – oft natürlich auch in Resignation – niederschlägt. Für einen revolutionären gesellschaftlichen Wandel bedarf es anderer Formen der Politik. Hierfür müssen wir mit und in der Gesellschaft arbeiten und dürfen uns nicht von ihr abkapseln5.
Insurrektionalismus
Insurrektionalismus beschreibt eine in unseren Augen romantisierte Vorstellung einer Revolution. Sie besagt in etwa, dass nach einem großen Aufstand alles besser wird und wir dann die Freiheit haben, die wir schon immer wollten. Hiermit geht oft eine Glorifizierung von riots einher sowie eine vereinfachte Unterteilung in Freund*innen und Feind*innen: Wenn "Wir" uns nur stark genug gegen "Die": die Polizist*innen, die Security, die Kontrolleur*innen wehren, dann kommen wir damit unserem Ziel näher. Diese Perspektive nicht selten in der hiesigen subkulturellen Linken wieder. Anstatt aus einer marginalisierten Position der radikalen Linken auf einen Aufstand hinzuarbeiten, der gerade höchstwahrscheinlich sehr schnell reaktionär zerschlagen werden würde, müssen wir uns vielmehr darauf konzentrieren, die Strukturen in denen wir leben wollen, aufzubauen und zu schaffen, also zunächst reale Gegenmacht aufzubauen. Dies erreichen wir nicht, indem wir uns im ersten Schritt auf die Zerstörung des Bestehenden konzentrieren.
Demgegenüber haben wir einen anderen Begriff von einem revolutionären Wandel: Wir denken keinesfalls, dass uns die befreite Gesellschaft oder gar der Kommunismus an einem bestimmten Punkt in die Hände fallen wird, sondern dass wir ihn selbst erschaffen müssen. Hierfür brauchen wir sowohl eine gute Organisierung der radikalen Linken, als auch eine vermittelbare revolutionäre Perspektive, die nur in einer gemeinsamen, gesellschaftlichen und alltäglichen Praxis entstehen kann: Wir dürfen nicht bei unserem eigenen Alltag stehen bleiben.
Wo ansetzen und warum?
Unser Ziel als radikale Linke ist eine herrschaftsfreie, selbstverwaltete Gesellschaft von unten. Wenn wir diesen Weg dahin ohne eine Übernahme der Staatsmacht vollziehen wollen, dann kann dieser Wandel nur mit der Gesellschaft stattfinden und nicht gegen sie durchgesetzt werden: Revolution nicht für die Leute, sondern miteinander. Unser langfristiges Ziel ist ein Aufbau von Rätestrukturen von unten, die die Basis dafür legen, dass Menschen über ihre Belange selber entscheiden können.
Die Voraussetzungen dafür sind in der BRD nicht bereits gegeben. Wir leben in einer Gesellschaft, die durch eine neoliberale Politik und Ideologie zunehmend auf Individualisierung ausgelegt wird und in der wir durch unsere alltäglichen Handlungen in höchstem Maße in das globalisierte kapitalistische System eingebunden sind - es gleichzeitig immer wieder reproduzieren und von ihm abhängig sind. Auch nach allen Wirtschaftskrisen der letzten Jahre bleibt der deutsche Staat ein Profiteur dieser Entwicklungen. Er nimmt durch ein dichtes Netz (wohlfahrts-)staatliche Leistungen eine starke Rolle im Leben der Menschen ein und genießt noch immer ein - im Vergleich zu z.B. südeuropäischen Ländern – relativ hohes Vertrauen der Bürger*innen. Durch reformative Gewerkschaften und das dichte Netz staatlicher Institutionen werden Widersprüche häufig eher befriedet als dass es Möglichkeiten gibt, diese zuzuspitzen. Auch aufgrund des Nicht-Vorhandenseins einer gemeinsamen Unterdrückungs- und Widerstandsgeschichte, die in Deutschland zu großen Teilen eher eine Täter*innen-Geschichte ist, erscheint kollektiver Widerstand gegen und außerhalb des Staates häufig als unmöglich.
Es muss daher im ersten Schritt vielmehr darum gehen, Dinge wie das Bewusstsein über eine kollektive Betroffenheit, die Möglichkeit von Widerstand und außerstaatlichen, selbstorganisierten Lösungen zu entwickeln. Das Ziel ist zunächst, ein Gefühl zu vermitteln von "eine andere Welt ist möglich". Dieses Gefühl, welches sich nur durch eine langfristige und kontinuierliche Arbeit mit Menschen entwickelt, ist die Grundlage für einen gemeinsamen Prozess zur Suche nach Alternativen. Dafür braucht es eine Stärkung von Organisierungsprozessen an der Basis der Gesellschaft - im Gegensatz zu einer Machtübernahme oder auch reinen Reformen auf repräsentativer Ebene. Unsere Praxis sollte deshalb darauf abzielen, im direkten Kontakt Menschen zur Selbstorganisation zu befähigen, ihre eigenen Betroffenheiten in Zusammenhang mit den herrschenden Verhältnissen zu setzen sowie Diskussionen zu führen, kollektive Lösungen zu finden und die Notwendigkeit einer radikalen Überwindung dieser Verhältnisse zu vermitteln - kurz: Menschen durch Erfahrbarkeit zu politisieren.
Wir stellen uns eine Praxis vor, die auch und vor allem außerhalb großer Events oder Kampagnen stattfindet und so eine langfristige kontinuierliche Arbeit mit Menschen ermöglicht. Diese Kontinuität und das Sichtbar-Werden einer linksradikalen Praxis im eigenen Alltag ist nötig, um unsere Werte wie Kollektivität und Solidarität erfahrbar und die Möglichkeit einer Alternative zum Jetzt vorstellbar werden zu lassen. Unsere Praxis sollte deshalb in erster Linie eine gesellschaftliche sein, d.h. Offenheit und Anschlussfähigkeit zentrale Prinzip beinhalten - ohne die eigene Position zu beispielsweise sexistischen oder rassistischen Ressentiments und Äußerungen zu verheimlichen. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns mit gesellschaftlicher Basisarbeit zwangsläufig bewegen.
Wie sollen unsere Strukturen aussehen?
Wir müssen Strukturen schaffen, die in erster Linie die Erfahrbarkeit unserer Werte ermöglichen. Ein reiner Aufbau von Räten nach basisdemokratischen und solidarischen Prinzipien wird – haben diese den Anspruch auch als wirkliche politische Entscheidungsstruktur auf gesamt-gesellschaftlicher Ebene zu wirken – eher früher als später an seine Grenzen stoßen. Grenzen, die uns durch den Staat gesetzt sind, da eine Organisierung und Entscheidungsfindung von unten im direkten Gegensatz zu seinem Prinzip des Regierens steht. Zusätzlich stehen wir immer auch vor der Gefahr der Vereinnahmung durch reformistische Kräfte und eine neoliberale Politik, in der besonders partizipatorische Konzepte als herrschaftsstabilisierende Instrumente, z.B. in Form von Quartiersverwaltungen oder Bürgerbeteiligungen zunehmend populär werden. Solch ein reiner Aufbau von „positiven“ Strukturen läuft somit auch immer Gefahr, das Gefühl zu verstärken, auf gesamt-gesellschaftlicher Ebene sowieso nichts verändern zu können und einen Rückzug auf subkulturelle oder alternative „Inseln“ zu befördern. Ziel unserer Arbeit sollte es aber sein, genau diesen Gedanken entgegenzuwirken und ein Bewusstsein zu entwickeln, dass wir eine reale Macht besitzen, mit der wir sowohl die bestehenden Verhältnisse überwinden als auch eine neue Form des Zusammenlebens entwickeln können - ohne auf externe Instanzen wie den Staat oder den Chef vertrauen zu müssen, die unseren eigentlichen Interessen widersprechen.
Dadurch ergibt sich auch die Frage, warum Menschen, vor allem jene, die bisher keinen Kontakt zu linksradikalen Ideen hatten, sich an unseren Strukturen beteiligen sollten. Wir gehen davon aus, dass ein Großteil der Unzufriedenheiten und Betroffenheiten, die wir in unserem Alltag zu spüren bekommen, aus gesellschaftlichen Mechanismen resultieren. Mechanismen, von denen wir alle Teil sind und die nur gemeinsam überwunden werden können. Wir müssen daher an den konkreten Bedürfnissen bzw. Unzufriedenheiten der Menschen ansetzen und den Kampf gegen Letztere zum Ausgangspunkt einer gemeinsamen Organisierung machen. Das stellt uns immer wieder vor den Widerspruch, Kämpfe für konkrete Verbesserungen im Bestehenden zu führen, wenn wir doch eigentlich das Ganze ablehnen und überwinden wollen. Unsere Aufgabe als radikale Linke sollte daher nicht mit diesen (im besten Fall erfolgreichen) Kämpfen beendet sein. Vielmehr sollten wir sie als wichtige Erfahrungen eines Politisierungsprozesses betrachten, in dem wir die Stärke und die Möglichkeit von Solidarität und kollektivem Handeln erfahrbar machen können. Auf der anderen Seite sollten diese Kämpfe immer begleitet werden von einer politischen Bildungsarbeit, die die systemischen und damit gemeinsamen Ursachen der verschiedenen Probleme aufzeigt, die Notwendigkeit einer radikalen Überwindung der Verhältnisse vermittelt und ein Gegeneinander-Ausspielen verschiedener Gruppen durch soziale Kämpfe verhindert6.
Das ist ein Prozess, in dem wir Erfahrungen sammeln und ständig reflektieren müssen, nicht doch zu einer Form von Sozialarbeit oder Sozialdemokratie zu werden - sei es durch rein solidarische Praxen oder das reine Unterstützen von sozialen Kämpfen. Wir müssen uns von Beginn an von staatlichen Institutionen abgrenzen, die dazu dienen, durch Institutionalisierung Widerstand abzuschwächen und zu verhindern.
Begleitet werden sollten diese Kämpfe daher immer auch mit Auseinandersetzungen darüber, wie andere selbstverwaltete Formen für das, was bekämpft werden soll, aussehen können. Es gibt keinen Leerraum von Macht, d.h. wenn erkämpfte Räume nicht durch unsere Ideen gefüllt werden, überlassen wir sie politischen Gegner*innen oder einer neoliberalen Vereinnahmung. Wir verstehen den revolutionären Prozess damit als ein Zusammenwirken von konkreten Kämpfen gegen die aktuellen Verhältnisse und dem Entwickeln und Erlernen von eigenen Ideen und Strukturen, die unseren Werten entsprechen.
Ein Verständnis als Initiativkräfte
Wenn wir auf die Geschichte revolutionärer Bewegungen blicken, so wird deutlich, dass revolutionäre und dauerhafte Selbstorganisierungsprozesse nicht von alleine entstehen, sondern ihnen oft die organisatorische Arbeit von revolutionären Kräften vorausgingen7. Richtig ist, dass der Kapitalismus eine Tendenz zu Krisen zeigt bzw. sich in einer permanenten Krise befindet, die immer wieder zu sozialen Aufständen führt, in denen wir das Entstehen von breiten gesellschaftlichen Selbstorganisierungsprozessen beobachten können. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Prozesse qua Definition einen emanzipatorischen Charakter haben oder auf Dauer aus sich heraus in der Lage sind, das widerständige Potenzial dieser Aufstände in den Aufbau einer gesamtgesellschaftlichen Selbstverwaltung zu überführen. Vielmehr zeigt sich zumeist nach solchen Erhebungen das erneute Erstarken einer Staatsmacht. Hier spielen zum Teil auch linke Parteien eine Rolle, die zwar dieses Potenzial für sich nutzen, gleichzeitig aber auch den radikalen Charakter dieser Aufstände untergraben und erneut in ein staatlich-kapitalistisches System integrieren.
Wir denken daher, es braucht ein Verständnis der radikalen Linken als Initiativkräfte, die auch bereits in vor-revolutionären Zeiten das Ziel verfolgen, gezielt Strukturen aufzubauen, die die Selbstorganisierung der Gesellschaft ermöglichen. Gezielt bedeutet für uns, sich auf die Suche nach bereits bestehenden Unzufriedenheiten zu machen, sowie einer möglichen Bereitschaft bzw. der erkannten Notwendigkeit Widerstand zu leisten.
Das Verhältnis einer Gruppe, die die herrschenden Verhältnisse als Ursache vieler Missstände erkannt hat und organisiert an ihrer radikalen und kämpferischen Überwindung arbeitet, zum Rest der Gesellschaft, die wir von einer notwendigen Veränderung überzeugen wollen, birgt durchaus Schwierigkeiten. Wir denken, dass die radikale Linke versucht, einem bewussten Umgang damit durch ihre Form der Praxis8 aus dem Weg zu gehen. Ohne eine gesellschaftliche Praxis, ist es jedoch nicht möglich dieses Verhältnis aufzulösen - die Alternative wäre es, sich von jeglichem Anspruch auf gesellschaftlichen Wandel zu verabschieden.
Vielmehr halten wir es für notwendig, dieses Verhältnis als Realität und somit als unseren Ausgangspunkt anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund müssen wir versuchen, Modelle für die Praxis zu finden, die dieses Verhältnis berücksichtigen, und versuchen nicht-autoritäre Lösungen zu finden. So dürfen beispielsweise Entscheidungskompetenzen, die gesellschaftliche Probleme betreffen, niemals bei einer Organisation liegen, sondern bei den Basisstrukturen. Organisierte Kräfte müssen möglichst transparent und kritisierbar handeln, und durch Methoden der Kritik & Selbstkritik diese Rolle reflektieren, sowie durch entsprechende Strukturen Machtanhäufungen verhindern.
In der deutschsprachigen radikalen Linken (Szene) existiert eine Ablehnung einer solchen Form des Politik-Machens, die in diesem Zuge häufig als autoritär wahrgenommen wird. Wir denken, dass die heutige „Szene“ auch als ein Resultat der innerlinken Auseinandersetzung mit dem sogenannten Realsozialismus und dem orthodoxen Marxismus zu betrachten ist. In ihr findet sich durch die Betonung eines Antiautoritarismus eine wichtige Kritik an den entsprechenden Modellen einer revolutionären Organisation, die es sich zum Ziel setzt durch Agitation und Propaganda Anhänger*innen zu gewinnen, und deren Ziel es - zumindest kurzfristig - bleibt, die Staatsmacht zu übernehmen bzw. zentrale Entscheidungen zu treffen - anstatt im direkten Schritt Menschen zur Selbstorganisation zu befähigen.
(Über-)regionale Organisierung von revolutionären Kräften
Diese Ablehnung von traditionellen linken Organisationsmodellen sollte aber nicht dazu führen, die Idee einer gemeinsamen linksradikalen Organisierung aufzugeben, uns alle ausschließlich dort zu organisieren, wo wir leben oder arbeiten, und so in selbstorganisierten Projekten aufzugehen. Wir sehen darin die Gefahr, weiter zu vereinzeln, uns auf kleine linke Inseln zurückzuziehen und uns letztlich noch weiter von der Möglichkeit einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft zu verabschieden. Auch aufgrund höchst organisierter Strukturen des Staates, des Kapitalismus und auch unserer politischen Gegner*innen, braucht es neben den Selbstorganisierungsprozessen in der Gesellschaft weiterhin eine Organisierung von revolutionären Kräften. Denn ja: wir haben ein Interesse an einem gesellschaftlichen Wandel in unserem Sinne, wir bauen auf bestimmten Werten auf und wollen diese Vision nicht so ohne Weiteres aufgeben.
Wir sehen die Funktion dieser Organisation nicht darin, quasi als Selbstzweck mehr und mehr Anhänger*innen zu gewinnen, um daran ihre Stärke zu bemessen. Ihr Ziel sollte vielmehr darin liegen, Selbstorganisierungsprozesse in der Gesellschaft anzustoßen, Ideen und Fähigkeiten zu vermitteln, und dafür zu sorgen, dass diese Prozesse einen emanzipatorischen Charakter beibehalten. Dafür benötigt es ein strategisches Handeln, welches durch Vernetzung und Erfahrungsaustausch, Bildung, die gemeinsame Arbeit an einer Analyse und möglichen Ansatzpunkten in der Gesellschaft gewährleistet werden kann. Durch das Zusammenspiel von Basisarbeit und revolutionärer Organisation muss ein wechselseitiger Prozess entstehen, durch den linksradikale Ideen in die Gesellschaft getragen werden, wir gleichzeitig aber auch immer unsere Analysen und Ideen im direkten Kontakt mit den Menschen überprüfen und erweitern müssen.
Wir denken zudem, dass ein fester Bezugs- und Handlungsrahmen, also eine gemeinsame überregionale Organisierung von revolutionären Kräften, notwendig ist, um eine große Perspektive beibehalten zu können. Sie kann der Gefahr begegnen, dass die regionale Basisarbeit schnell in sich selbst aufgeht und das Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung in dieser Arbeit aus den Augen verloren wird. Es braucht einen Ort (auf lokaler, auf überregionaler, letztlich internationalistischer Ebene), an dem wir uns gemeinsam den offenen Fragen in Bezug auf Basisarbeit und eine revolutionäre Perspektive stellen können. Hier kann auch eine konstante Reflexion der Praxis, das Entwickeln von Theorien und strategischen Überlegungen stattfinden.
Wir sollten uns daher nicht gänzlich in den lokalen Strukturen (wie Nachbarschaftscafès, Kollektivbetrieben, Stadtteilräten,...) auflösen, sondern eine geeignete Form der Organisierung von revolutionären Kräften finden, die dem Anspruch einer wechselseitigen Beziehung zur Gesellschaft gerecht wird, also nicht in elitäre und autoritäre Strukturen verfällt.
Vor diesem Hintergrund macht es keinen Sinn als ersten Schritt eine feste überregionale Organisation aufzubauen. Der Aufbau einer solchen Organisation sollte zeitgleich mit dem Aufbau einer Praxisarbeit stattfinden, da sich aus den Erfahrungen dieser Arbeit und den dort aufkommenden Fragen der genaue Charakter und die konkreten Aufgaben der Organisation erst ergeben werden. Wir sehen die Prozesse der Basisarbeit einerseits als Teil eines revolutionären (Such-)Prozesses nach Möglichkeiten der Veränderung in der Gesellschaft. Wie auch andererseits als Teil eines Suchprozesses nach einer neuen Form einer revolutionären Organisation, deren Fokus das Anstoßen von Selbstorganisierungsprozessen an der Basis und somit der schrittweise Aufbau eines basisdemokratischen Gesellschaftsmodells ist.
Wo anfangen?
Da wir einen revolutionären Wandel, der eine herrschaftsfreie Gesellschaft zum Ziel hat, nur mit einer Mehrheit der Gesellschaft machen können, stellt sich damit die strategische Frage, wo wir in der Gesellschaft hohes Potential und auch ein Interesse an einem grundlegenden Wandel sehen, um dort mit dem Aufbau von widerständigen Basisstrukturen zu beginnen.
Wir gehen davon aus, dass es (wenn auch nicht deterministisch) einen Zusammenhang zwischen der sozialen Positionierung und dem Wille zur Veränderung gibt, bzw. ganz konkrete materielle Interessen an einer Überwindung bzw. Veränderung, aber eben auch an der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse. Menschen, die mit 2 Jobs halbwegs über die Runde kommen, die im Alltag Diskriminierung ausgesetzt sind, die ihre Miete nicht bezahlen können, zeigen sich eher mit diesem System unzufrieden als diejenigen, die von der Ausbeutung von Arbeitskraft profitieren, denen die Häuser gehören, usw9.
Auch wenn ein Großteil des linken öffentlichen Protests sich zur Zeit aus höher gebildeten und bürgerlichen Zusammenhängen formiert, denken wir, dass eine Bereitschaft zum Kampf für eine radikale Veränderung auf einer breiten Ebene nicht alleine durch theoretische Einsichten in die Missstände entstehen kann. Diese Sichtweise, die sich das Entstehen einer revolutionären Subjektivität durch abstrakt-theoretische Bildung erklärt, läuft Gefahr, uns zunehmend von den Menschen zu entfernen, die am unmittelbarsten von diesen Verhältnissen betroffen sind und unterdrückt werden.
Vielmehr existiert häufig schon ein Bewusstsein für die Unmenschlichkeit dieser Verhältnisse. Auch aus einer (Selbst-)Kritik der zum Großteil Weißen und studentischen linken Szene halten wir es für notwendig, uns wieder die Frage zu stellen für bzw. mit wem wir Politik machen. Wir sollten uns bewusst auch an diejenigen wenden und uns auf die Seite derer stellen, die die Auswirkungen dieses Systems am direktesten zu spüren bekommen, ein konkretes Interesse an der Verbesserung ihrer Lebenssituation haben und die Bereitschaft wecken, dafür zu kämpfen.
In Anbetracht der Entwicklung und des Entstehens sozialer Bewegungen der letzten Jahrzehnte sind wir der Überzeugung, dass sich keine partikulare bzw. bestimmte Gruppe (im Sinne von Arbeiter*innen, Frauen*, PoC,...) ausmachen lässt, der zugeschrieben werden kann, eine herausragende Rolle im Prozess einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung einzunehmen. Wir denken es gibt keine (Teil-)Gruppe, deren Befreiung auch eine Befreiung der gesamten Gesellschaft bedeuten würde.
Die historische Position, dass die Arbeiter*innen begründet durch ihre Funktion im kapitalistischen Produktionsprozess diese Rolle einnehmen werden bzw. sollten, ist in der radikalen Linken gemeinhin zugunsten einer pluraleren und komplexeren Gesellschaftsanalyse aufgegeben worden. Proteste und gesellschaftliche Widerstände, aus denen in Teilen dann die Einsicht nach einem gesamtgesellschaftlichen Wandel folgt, entstehen aus verschiedensten Konfliktlinien10. Diese Bewegungen zeigen uns, dass nicht nur der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit das Leben und damit die Betroffenheiten der Menschen bestimmt, sondern auch rassistische Differenzierungen, patriarchale Strukturen, sowie eine Reihe weiterer unterschiedlicher Unterdrückungsmechanismen. Da sich diese Strukturen wechselseitig verstärken und überschneiden, durch uns alle verlaufen und reproduziert werden, ist es für uns unmöglich ein revolutionäres Subjekt als eine bereits existierende (feste) Gruppe zu bestimmen. Eine klare theoretische Bestimmung einer solchen Gruppe läuft immer auch Gefahr, Betroffenheiten zu priorisieren und damit den Blick dafür zu verlieren, dass es sich um gesellschaftliche Mechanismen handelt, die nur gemeinsam (unter Berücksichtigung unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionen) überwunden werden können11.
Das Problem, vor dem wir mit dem Ziel einer gemeinsamen Organisierung in diesem Sinne stehen, sind verschiedene Unterdrückungsmechanismen, die die Gesellschaft durchziehen und das Entstehen von kollektiven Prozessen verhindern. Es ist gefährlich diese Frage einfach zu ignorieren und zu versuchen, Strukturen dahingehend aufzubauen, rein auf Kollektivität und Universalität zu setzen, damit aber gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verschleiern12. Diese Mechanismen können solche kollektiven Strukturen, die ein Abbild der Gesellschaft sein sollten, aufgrund von Ausschlüssen13 im ersten Moment verunmöglichen. Der Aufbau von identitätspolitischen Gruppen und Schutzräumen erhält daher ihre Legitimität und Wichtigkeit. Dadurch, dass diese Prozesse oft abseits von anderen Strukturen stattfinden bzw. es keine gemeinsame Struktur gibt, die aus dem Bewusstsein existiert, dass es die gesamte Gesellschaft für einen Wandel bedarf, hat eine solche Strategie alleine jedoch kein gesellschaftliches Potenzial und kann eher zu einer Verschärfung von identitätspolitischen Grenzen beitragen.
Wie wir damit umgehen können und welche konkrete Rolle autonome bzw. identitätspolitische Organisierungen in einer Praxis der Basisorganisierung spielen werden, stellt sich für uns zum jetzigen Zeitpunkt noch als offene Frage dar. Klar ist, dass die Notwendigkeit solcher Strukturen durch Rassismus und das Patriarchat existiert und es deshalb auch Strukturen zu deren Überwindung bedarf, um nicht selber genau diese Mechanismen zu reproduzieren. Mögliche Strukturen sollten dabei nicht ohne Bezug zu einer gemeinsamen Organisierung stattfinden. Der Fokus muss darauf liegen gemeinsame Strukturen zu ermöglichen, durch die eine Verbindung der einzelnen Kämpfe gegen bestimmte Verhältnisse geschaffen werden kann, um daraus eine gesamtgesellschaftliche Perspektive zu entwickeln.
Stadtteilarbeit
Kapitalismus findet nicht nur an einem Ort statt, sondern an vielen: (Klassen-)Kämpfe finden im Betrieb statt, ebenso wie im Wohnhaus und in der (bezahlten oder unbezahlten) Care-Arbeit sowie in Kämpfen um Anerkennung. Wir betrachten damit all diese Kämpfe als Teil der sozialen Frage. Eine revolutionäre Organisierung muss daher auch breiter sein und Menschen in ihren verschiedenen Lebensrealitäten miteinbeziehen. Richtet die radikale Linke ihren Fokus lediglich auf einen dieser Bereiche, verliert sie zwangsläufig andere aus dem Blick und läuft Gefahr, sich auf Erfahrungen einer bestimmte Gruppe zu konzentrieren und diese zu verallgemeinern. Die Frage nach einer Verbindung von sozialen Kämpfen, wie sie oft relativ abstrakt als Zielvorstellung formuliert wird, führt uns zu der Frage nach dem Ort der Organisierung. All diese sozialen Kämpfe finden von vornherein nicht abgetrennt voneinander statt, sondern laufen in unserem Alltag zusammen. Uns eint die unmittelbare oder mittelbare Abhängigkeit davon, lohnarbeiten zu müssen, um unsere Miete zu bezahlen, Lebensmittel zu kaufen, am kulturellen Leben teilzunehmen. Darüber wirken (unterschiedlich verteilt) patriarchale und rassistische Strukturen. All diesen Mechanismen sind wir nicht nur an einem spezifischen Ort ausgesetzt, sondern sie betreffen unseren gesamten Alltag, sie beeinflussen, wie wir unser Leben führen.
Ein geeigneter Ort der Organisierung sollte daher einer sein, der linksradikale Politik und Ideen im Alltag sichtbar und es so möglich macht, an unseren vielfältigen Bedürfnissen und Interessen anzusetzen - nicht bloß an denen, die durch einen bestimmten Ort unseres Lebens (z.B. den Betrieb) vorgegeben werden und die wir als Linke vielleicht als zentral analysiert haben.
Wir denken, dass es für das Ziel eines gesamtgesellschaftlichen Wandels von unten sinnvoll ist, sich an einem Ort zu organisieren, an dem wir als Menschen mit dem Interesse an einem besseren Leben für alle Teil der Organisierung sein können – nicht nur als Teil unserer Identität, als Arbeiter*innen, Frauen*, Migrant*innen, PoC, Mieter*innen, Studierende, etc. Durch das Zusammenkommen von unterschiedlichen Menschen am Ort der Organisierung, spielen auch unterschiedliche Kämpfe eine Rolle. In einer gemeinsamen Organisierung im Stadtteil liegt die Chance, diese verschiedenen (Alltags-)Kämpfe zu verbinden und so Solidarität und das Entstehen einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu ermöglichen.
Der Stadtteil ist für uns zudem der Ort, der in Form von Stadtteilräten eine der untersten Ebene einer selbstverwalteten Gesellschaft darstellen kann. Deshalb erachten wir es für sinnvoll, hier bereits jetzt Ansätze einer Selbstverwaltung aufzubauen. Dabei ist uns durchaus bewusst, dass dies ein langfristiger Prozess ist und wir weit davon entfernt sind, uns in einem Stadtteil Häuser oder Betriebe anzueignen oder diese Strukturen gegen den Staat verteidigen zu können. Als elementare Grundvoraussetzung für die politische Organisierung ist es zunächst notwendig, die Vereinzelung und Individualisierung aufzubrechen. Unser Ziel ist es daher zunächst den Zustand zu bekämpfen, in dem wir unsere eigenen Nachbar*innen, unsere Mitmenschen, nicht kennen und mit unseren Problemen alleine bleiben.
Wir wollen durch die sozialen Kämpfe im Stadtteil (Probleme mit dem Amt, mit dem Chef, Care-Arbeit, Polizei..) das Bewusstsein schaffen, dass die unterschiedlichen Probleme der Menschen keine individuellen sind, sondern strukturelle, von denen eine Vielzahl von Menschen betroffen sind. Deren Ursachen somit nur gemeinsam überwunden werden können. Wir wollen die sozialen Konflikte in der Nachbarschaft zuspitzen zu sozialen Kämpfen, in denen wir sowohl unsere eigene Macht als auch unser gemeinsames Interesse an gesellschaftlicher Veränderung erfahren können.
Was wir in den Kämpfen gewinnen können sind weit mehr als kleine reale Verbesserungen für wenige von uns – durch die praktische Erfahrung von Solidarität schaffen wir das Bewusstsein über die Möglichkeit einer Alternative. Wir überwinden die Wahrnehmung unserer Probleme als rein individuelle und entwickeln Kollektivität. Auf diese Art wollen wir uns dafür einsetzen, dass sich das Gegrummel in der Kneipe über den Vermieter zu einem Mietstreik entwickelt, bis wir als Mieter*innen selbst die Häuser verwalten, in denen wir wohnen.
Unser langfristiges Ziel der Stadtteilarbeit ist, hier Einrichtungen und Institutionen zu schaffen, die uns ein besseres Leben nach unseren Werten ermöglichen. Dies bedeutet für uns, die Perspektive einer basisdemokratischen Gesellschaft zu entwickeln, in der wir als Bewohner*innen unser Leben selbst verwalten. Eine Gesellschaft, in der die Häuser der Gemeinschaft gehören, genauso wie die Produktionsmittel, die Infrastruktur und in der zentrale Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Ab einem gewissen Punkt muss es daher neben dem kämpferischen Aspekt der Basisorganisierung auch darum gehen, eigene kollektive und bedürfnisorientierte Strukturen aufzubauen oder uns Bestehendes anzueignen und zu vergesellschaften, um langfristig in der Lage zu sein kapitalistische Strukturen abzulösen. Hier können wir an bereits existierende Strukturen anknüpfen und uns mit diesen zu verbinden. Schließlich muss es darum gehen durch eigene, basisdemokratische Strukturen unser Leben zu organisieren, ohne den fremdbestimmten Einfluss des Staates oder des Marktes. Wann und wie ein solcher „Aufbau“ Sinn macht, muss Teil zukünftiger Überlegungen sein. Da diese Strukturen gesellschaftliche Strukturen sein sollen, benötigt der Aufbau in gewisser Weise eine solidarische Nachbarschaft, also eine Verankerung in der Gesellschaft, die zuerst hergestellt werden muss.
Was nun?
Aus dem Bisherigen ergeben sich für uns zwei anzugehende Handlungsfelder.
Erstens Praxiseinstieg: Wir werden uns in unserer Stadt für einen geeigneten Stadtteil für die Praxis entscheiden. Dazu wollen wir uns sowohl an den sozioökonomischen Strukturen in den Stadtteilen orientieren, als auch an der Stimmung im Viertel, an Problembewusstsein und Bereitschaft, für Veränderungen zu kämpfen14. Wenn wir einen geeigneten Stadtteil für den Beginn der Basisarbeit gefunden haben, möchten wir hier beginnen, Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen. Konkret wird dies zu Beginn wahrscheinlich bedeuten, dass wir einen öffentlichen Treffpunkt einrichten, an dem wir Nachbar*innen zusammenbringen wollen, um sich über gemeinsame Probleme auszutauschen, diese zu bekämpfen, den Zustand der Vereinzelung aufzubrechen und Formen der politischen Bildungsarbeit zu ermöglichen.
Die politische Arbeit im Stadtteil ist zunächst stark davon abhängig, welche Konfliktlinien sich in der Nachbarschaft am deutlichsten zeigen, bzw. zu welchen es das größte Bewusstsein gibt. Aufkommende Probleme können beispielsweise Mietprobleme, rassistische Diskriminierungen, nicht gezahlte Löhne, Probleme mit dem Amt, gerechtere Organisierung der Care Arbeit, drohende Abschiebungen, Bekämpfung der Vereinzelung oderoderoder sein. Unsere Praxis darf trotz der strategischen Ausrichtung an den Interessen im Stadtteil niemals den Anspruch verlieren, politisch zu sein. Wir müssen versuchen uns in der Praxis von Sozialarbeit sowie von staatlichen Strukturen zu unterscheiden, indem wir soziale Konflikte nicht befrieden, sondern zuspitzen. Wie dies konkret aussehen wird, bleibt noch offen.
Insgesamt ist das Konzept der Stadtteilarbeit also weniger ein Masterplan, als ein offenes Konzept, welches sich vermutlich durch viel Ausprobieren, Erfahrungen Sammeln und nicht zuletzt einen langen Atem weiterentwickeln wird15.
Zweitens Organisieren!: Aus diesen Gründen und auch um in der Praxis eine strategische Perspektive zu bewahren, benötigt es unserer Meinung nach auch einen festen Zusammenhang, durch den die Praxis organisiert und verbindlich angegangen werden kann. Das Konzept der Stadtteilarbeit in Verbindung mit einer revolutionären Perspektive erfordert für uns also auch eine verbindliche Organisierung revolutionärer Kräfte. Wir brauchen eine Struktur, die es für viele Menschen ermöglicht, sich zu beteiligen, in der wir sowohl trotz Familie und Job partizipieren können, wie auch als Studierende mit viel Zeit. Eine solch verbindlichere Struktur erleichtert zudem den dauerhaften überregionalen Austausch mit anderen Gruppen, die sich mit dem Ziel eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels ebenfalls in der Praxis der Basisarbeit und -organisierung befinden und wirkt so der Gefahr entgegen, sich in der lokalen Arbeit zu verlieren und die strategische Perspektive aus den Augen zu verlieren. Wir teilen letztlich die Auffassung, dass die bisherigen Diskussionen wenig ergiebig bleiben, wenn wir es nicht schaffen sie in den Aufbau einer klassenkämpferischen und mindestens bundesweiten/überregionalen Organisation zu überführen.
Hier in Münster bedeutet das für uns, auch weiter an der Beendigung eines reinen Politikmachens in Kleinstgruppen zu arbeiten. Wir müssen linksradikale Politik wieder motiviert aus unseren Gemeinsamkeiten heraus machen. Diese herauszufinden kann vor dem Hintergrund der ziemlich zersplitterten Linken durchaus ein langer Prozess sein, der sich nicht in Bündnissen zu bestimmten Aktionen erschöpfen sollte, sondern langfristig, also auch außerhalb von bestimmten Anlässen angegangen werden muss. Erste Schritte wurden in dieser Hinsicht bereits mit der Strategiekonferenz oder auch einzelnen lokalen und gruppenübergreifenden Bildungstagen gemacht. Solche Veranstaltungen können Möglichkeiten sein, verschiedene Gruppen, die auf das gleiche Ziel hinarbeiten - wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen - zusammenzubringen und zukünftig zu einer engeren Zusammenarbeit beitragen. Hierfür ist es unserer Meinung nach weiterhin sinnvoll unseren Blick weiter auf unsere Ziele zu richten, also uns vor der Frage "Wo wollen wir hin?" über geeignete Strategien zu verständigen. Eine bewusst internationalistische Perspektive - im Konkreten aktuell der Blick nach Rojava oder Chiapas - kann uns helfen, uns dieser Frage anhand konkreter Bewegungen zu nähern und eventuelle Gräben zwischen Gruppen zu schließen. Unsere Ideen für eine revolutionäre Praxis hier in Münster und der BRD sollten damit auch als praktische Solidarität mit emanzipatorischen Bewegungen weltweit begriffen werden. Wie vor kurzem im lowerclass magazin beschrieben wurde ist die häufigste Antwort auf die Frage an die Freund*innen in Rojava, was die deutsche Linke hier angesichts der Lage Afrin tun kann:
„Macht Revolution in Deutschland.“16
///////
1Eine Selbstdarstellung des Strategietreffens findet sich auf https://ms-alternativ.de/
2 Wir beobachten, dass mit einer Herrschaftskritik in der (autonomen) Linken oft eine Kritik jeglicher Abhängigkeiten einhergeht. Dies wird begleitet von einer neoliberalen Betonung individueller Freiheit, mit der die gesellschaftliche Verantwortung negiert wird. Revolutionär und demokratisch zu handeln muss auch bedeuten, die Tragweite sowie eventuelle Folgen des eigenen Handelns abzuwägen, sowie die Verantwortung zum Erhalt der Gesellschaft zu übernehmen.
3 gemeint ist hier die seit ca. 2012 verstärkt wahrnehmbare Debatte über die Wirksamkeit der Praxis der radikalen Linken, aus der sowohl bereits (neue) Praxisformen, als auch eine Reihe von Kritik- und Strategiepapieren hervorgegangen sind. Eine Übersicht findet sich beispielsweise hier: https://web.archive.org/web/20170827170807/https://www.selbermachen2017… oder in der aktuellen Debatte um eine Neue Klassenpolitik: http://www.sebastian-friedrich.net/neue-klassenpolitik/
4 Auch wenn das Gefühl, dass eine bessere Zukunft möglich ist, bei Mobilisierungen/Protesten durch kollektive Momente sicherlich (kurzzeitig) entsteht.
5 Ein Zitat von Riza Altun (Mitbegründer der PKK und Mitglied des KCK-Exekutivrats) in Bezug auf den Anarchismus lässt sich unserer Meinung nach gut auf die Kritik eines subkulturellen Politik-Ansatzes übertragen: „Da diese philosophische und ideologische Erfahrung jedoch mehr im ideologischen und weniger im Bereich von Organisation, Kampf und Widerstand gezeigt wird, gibt es keinen Widerhall in der Gesellschaft und die Kraft, eine wirkliche Freiheitslinie zu repräsentieren, wird nicht aufgebracht." http://civaka-azad.org/mit-dem-paradigma-der-pkk-den-sozialismus-neu-sc…
6 „Es geht nicht um Aufklärung, sondern um wechselseitige (Selbst-)Aufklärung: um eine Politik des kritisch-reflexiven Beistandes, der die Widersprüche und Grenzen der Alltagskämpfe klar benennt, sie aber nicht von einem vermeintlich aufgeklärten Standpunkt aus als abgeschlossene »System«-Widersprüche fixiert.“ (Stefanie Hürtgen: Denn sie wissen, was sie tun - http://www.akweb.de/ak_s/ak628/26.htm)
7 aktuellstes Beispiel ist sicherlich Rojava mit der PKK, aber auch die EZLN in Chiapas oder die CNT bzw. FAI im Spanischen Bürgerkrieg
8 Abschottung von der Gesellschaft; eine Mentalität von: die anderen sind blöd weil sie nicht Teil der Szene sind oder sich nicht organisieren; als nach außen dringende Praxis oft nur Demonstrationen und dadurch eine oft sehr einseitige Form der Kommunikation,...
9 Dieses Verhältnis wird vom Staat durch die Sicherung von Privateigentum geschützt. Linksradikale Politik, die die Überwindung des Kapitalismus zum Ziel hat, kann sich daher nur gegen den Staat richten und muss primär abseits von seinen Strukturen stattfinden.
10 Besonders nach 68 spielen identitätspolitische Bewegungen um Rechte und Anerkennung, Kämpfe um Demokratie und Mitbestimmung sowie ökologische Bewegungen eine bedeutendere Rolle - die klassische Arbeiter*innenbewegung hingegen hat an Bedeutung verloren.
11 "Da die Lebensformen und Interessenlagen der Klasse sehr unterschiedlich sind und sich mit der kapitalistischen Dynamik ständig ändern, steht „Klassenpolitik“ vor der Herausforderung, nicht nur die Arbeit, sondern alle Aspekte der Lebensweise, der klassenspezifischen Praktiken der verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen in den Blick zu nehmen. Andernfalls setzt sich nur die Erfahrung einer ihrer besonderen Gruppen durch und verallgemeinert sich. Die Gefahr, dass dies zu Ausschließungen und Starrheit führt, liegt auf der Hand." (Alex Demirović: Die Zumutungen der Klasse. Vielfältige Identitäten und sozialistische Klassenpolitik - https://www.zeitschrift-luxemburg.de/die-zumutungen-der-klasse-vielfael…)
12 Dass kollektive Strukturen für den Aufbau einer besseren Welt nötig sind, lässt sich zunächst einmal als Erkenntnis betrachten, die sich sowohl aus einer theoretischen Einsicht, aber auch maßgeblich aus positiven Erfahrungen von (meist begrenzten) kollektiven Prozessen ergeben kann. Gesellschaftlicher Alltag ist jedoch zumeist, dass wir die Trennungen erleben, die die Gesellschaft durchziehen, uns einander fremd fühlen, misstrauen, das Gefühl haben, nichts verändern zu können usw. Wir müssen daher an diesem Punkt ansetzen und uns davon ausgehend fragen, was es benötigt, damit nachhaltige, kollektive, gesellschaftliche Prozesse möglich werden und diese erfahrbar machen
13 durch unterschiedliche Betroffenheiten, einer unterschiedlichen Verteilung von Kompetenzen, Selbstbewusstsein, Angst,...
14 Hierfür wollen wir die Methode der militanten Untersuchung der operaistischen Bewegung nutzen: Hierbei geht es in Abgrenzung zu soziologischen Beobachtungen darum in einer "conricerca" (dt. Mituntersuchung) mit den Arbeiter*innen (oder in unserem Falle Anwohner*innen) gemeinsam nach Kampfmöglichkeiten zu suchen und später zur "autoricerca" (dt. Selbstuntersuchung) überzugehen. Das Konzept versucht dabei aktiv der kapitalistischen Vereinzelung entgegenzuwirken indem die in Befragungen und Interviews zur Sprache kommenden Konflikte nicht individualisiert sondern als kollektiv verstanden werden sollen - was sich konkret im Design der Fragen niederschlagen soll - mehr dazu: http://arranca.org/ausgabe/39
15 Gruppen in Deutschland die diesen Ansatz bereits in ähnlicher Form praktizieren sind z.B. „Solidarisch in Gröpelingen“ (Bremen), Solidarische Aktion Neukölln (Berlin), „Solidarisches Gallus“ (Frankfurt), „Wilhelmsburg Solidarisch“ (Hamburg), Hände weg vom Wedding (Berlin)