Eine Anfälligkeit für Antisemitismus lässt sich häufig auch in Spielarten eines identitätsfokussierten Aktivismus auffinden, der sich auf intersektionale und poststrukturalistische Ansätze beruft. Intersektionalität möchte Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen in ihrer gegenseitigen Verschränkung betrachten. Dabei kann sowohl das Zusammenwirken von Herrschaftsstrukturen analysiert werden als auch das Einwirken dieser auf die betroffenen Subjekte.
Der zweite Aspekt ist von großer Bedeutung und dient dazu, marginalisierten Erfahrungen eine Stimme zu geben sowie innerhalb progressiver Bewegungen wichtige Prozesse der Selbstkritik anzuregen. Tatsächlich lässt sich aber eine Einschränkung der intersektionalen Analyse auf die subjektive Perspektive beobachten. Dadurch werden anonyme gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen nicht mehr erfasst.
Wird das Modell auf die Analyse der Gesamtverhältnisse übertragen, liegt es nahe, Herrschaft in personifizierter Manier als lineare Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere aufzufassen. Anstelle einer Analyse von (Neo-)Kolonialismus und Hierarchisierungen auf dem Weltmarkt tritt eine schlichte Identifizierung guter und böser Akteure. Da Unterdrückungsformen als formal analog aufgefasst werden, bleibt oft das jeweilig Spezifische unterbelichtet.
Da auch das wirkliche Zusammenwirken innerhalb der gegebenen Herrschafts-verhältnisse schwerlich begriffen wird, bleibt es bei einer bloßen Aneinanderreihung von Solidaritäts-bekundungen. Wenn aber alle Unterdrückungsformen ähnlich funktionieren, liegt es nahe, nach einem Anliegen zu suchen, das symbolisch alle zusammenfasst: Dazu wurde von relevanten Teilen der globalen Linken die „palästinensische Sache“ gemacht – während Israel zum personifizierten Träger der Unterdrückung schlechthin ausgemacht wird.
Weil eine Kritik der realen Verhältnisse verpasst wird, vollzieht sich Aktivismus oft als Bekundung der eigenen guten Gesinnung, als Bekenntnis der Zugehörigkeit zur Gruppe der Guten und als selbstreferenzieller Gestus der vermeintlichen Auflehnung und Radikalität. Israelhass wird, wie bei der expliziten Judenfeindschaft, zum Identitätsfaktor, zum Ersatzkampf, zum Marker der eigenen Radikalität, zum kollektiven Ritual und zum Mittel der Selbstmobilisierung.
Gleichzeitig wird Antisemitismus oft komplett vernachlässigt und in seiner eigenen Funktionsweise nicht begriffen, da er sich nicht als lineare Unterdrückung auffassen lässt, sondern Folge in sich widersprüchlich vermittelter Herrschaftsverhältnisse und der Unfähigkeit, diese zu begreifen, ist.
Allerdings bleiben intersektionale Ansätze nicht nur weiterhin von großer Bedeutung für die Analyse von Herrschaftsverhältnissen und Diskriminierungen (und können von den genannten Fallstricken befreit werden), sondern könnten gerade für die Untersuchung von Antisemitismus - selbst intersektionales Phänomen -sehr aufschlussreich sein.
Wir werden lesen:
- Karin Stögner, Intersektionalität und Antisemitismus
- Samuel Salzborn, Globaler Antisemitismus (Auszüge)