Aus den imperialen Verhältnissen desertieren - Krieg dem Krieg

Schon ein Jahr dauert der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Die Aussichten auf ein baldiges Ende stehen schlecht, der Krieg ist zu einem Abnutzungskrieg geworden. Er wird nicht gewonnen werden, sondern wie so oft in der Weltgeschichte viel zu spät zu Ende gehen.

In erschreckender Weise haben sich große Teile der bundesdeutschen Linken in die herrschende Logik hineinzwingen lassen, nach der die europäische Ordnung, das freiheitliche, demokratische Modell Europas umkämpft ist. „Es geht Putin nicht um die Ukraine“, so der erste grüne Außenminister Joschka Fischer 2022, „es geht um viel mehr, es geht um die gesamte europäische Ordnung.“ Da ist er sich nicht nur einig mit der gesamten politischen Klasse der Bundesrepublik, sondern auch mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky, der behauptet, „Wenn die Ukraine nicht standhält, wird Europa auch nicht standhalten. Wenn wir fallen, fällt Europa.“

Können wir Euch endlich begreiflich machen, dass es hier nicht um einen Krieg um Menschenrechte und Freiheit, nicht um „europäische Werte“ geht? Wir werden hier nicht alles rekonstruieren, nicht die Vorgeschichte dieses Krieges, nicht die Rivalitäten zwischen Russland, EU, China und wem auch immer. Wir wollen nur in Erinnerung rufen, das wir uns in einer – wer hätte es gedacht – tiefen Krise des neoliberalen Kapitalismus befinden: fallende Profitraten, Finanz-Spekulationen, die Corona-Krise und eben z.B. der Krieg in der Ukraine (es gibt noch so so viele andere, auch in Europa!) sind einige der Symptome dieser Krise. In der Bundesrepublik versucht man, den Kapitalismus grün angestrichen, zu revitalisieren. Als grünes Akkumulationsregime sollen neue Märkte, neue Profitmöglichkeiten, neue Landnahmen ermöglicht werden. Dass all dies von einem politischen Autoritarismus und gleichzeitiger moralischer Hyperaufladung von Politik und Lebensgestaltung begleitet wird, bemerken die Wenigsten. Deshalb verbinden sich humanitäre Interventionen, Menschenrechtskriege und feministische Außenpolitik so organisch. Wir scheißen auf diese Werte!

Können wir Euch endlich begreiflich machen, dass es hier nicht um die Trauer um sterbende Menschen, sterbende Kinder geht, sondern dass es hier um imperiale Neuordnungsanstrengungen geht, in denen auch Europa eigene ökonomische Interessen, eigene Kriegsinteressen hat, und in denen der globale Süden wie immer überhaupt keine Rolle spielt? Warum wohl verstehen die wenigsten Menschen auf dem afrikanischen, auf dem lateinamerikanischen Kontinent und auch in Asien die aufgebrachte Empörung über das von Russland gebrochene Völkerrecht nicht? Vermutlich ahnen sie, dass sie wie immer die VerliererInnen sein werden, selbst wenn sie sich auf die Seite der Empörten stellen würden. Wir scheißen auf solch ein Völkerrecht!

Können wir Euch endlich begreiflich machen, dass es hier nicht darum geht,in „gute“ und „böse“ imperiale Mächte zu unterscheiden, um dann auf der „richtigen“ Seite zu stehen. Der Kapitalismus gerät nicht immer wieder in eine Krise, weil irgendwo etwas „schiefläuft“ (das sollen wir glauben), sondern weil dies seiner inneren Logik entspricht. Die Logik des Kapitalismus selbst ist Konkurrenz, ist Krise und Zertrümmerung, ist Krieg. Das ist seine Seinsweise, seine äußere und innere Form. Genau deshalb scheißen wir auf den Kapitalismus!

„Ja, werdet Ihr sagen, ihr habt ja Recht. Aber dennoch, müssen wir jetzt erstmal Waffen liefern, Krieg führen. Unsere Menschlichkeit, unser Mitleid mit den unschuldigen Opfern auf ukrainischer Seite gebietet es! Euer Pazifismus (nur zur Richtigstellung: Wir sind keine Pazifisten, wir sind Antimilitaristen) ist zynisch und empathielos.“

Es ist die gleiche Argumentation wie auf dem grünen Parteitag 1999, als Fischer mit der Zitation von „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ die Moral auf seine Seite schaufelte. Schon damals lautete das grüne Argument für die Nato-Bombardements, dass wir „dieses Europa nicht wiedererkennen würden, dass es nicht das Europa sein wird, für das wir gekämpft haben“. Schon der historische Vergleich mit dem Faschismus 1999 und erst recht der Putin-Hitler-Vergleich 2022 sind erbärmlich. Noch erbärmlicher ist jene linke Position, die sich unter dem Motto der „Realpolitik“ auf die Seite des Krieges stellt. Denn sie ist tatsächlich nichts anderes als Kriegspolitik. Genau diese Politik schafft unter dem Argument, Tote zu verhindern, immer mehr Tote. Welch empathieloser Zynismus nicht zuletzt gegenüber den Menschen in der Ukraine, einen Siegfrieden über Russland als einzige Option zu propagieren.

Wir haben nie für ein Europa gekämpft. Wir werden auch nie für ein wie auch immer geartetes Vaterland, für eine Heimat kämpfen. Aber wir stellen fest, dass sich das Europa von 1999 nicht wesentlich vom Europa 2023 unterscheidet. Nochmal: Es wäre an uns, aus den imperialen Verhältnissen zu desertieren, und nationalstaatliche, imperial grundierte Kriege nicht zu unterstützen, sie nicht zu befeuern. Es wäre vielmehr unsere Aufgabe, mit allen solidarisch zu sein, all diejenigen zu unterstützen, die in der Ukraine, in Russland den Kriegsdienst verweigern, die aus den Armeen ihrer Länder desertieren. Es wäre unser Aufgabe, die militaristische Logik hier bei uns lautstark und praktisch zu unterbrechen.

Wie schon 1999 werden wir auch diesmal wieder viel zu spät erkennen, dass das Schweigen gegen und die Unterstützung von militaristischer Kriegslogik kein Menschenleben gerettet haben wird. Wer eine Welt ohne Kriege für möglich halten will, muss jetzt Anderes tun als Waffen liefern.

Das war schon die viel zu späte Einsicht der Linken im Blick auf 1914-1918: „Wir waren im Irrtum am Anfang des Krieges, wir durften es nach vierzehn Tagen nicht mehr sein. Was wäre unsere Aufgabe gewesen? Wir wußten, daß, wenn der Krieg einmal da ist, jedes Volk zu seinem Lande stehen muß, und außerdem hat der einzelne Soldat keine Wahl, aber die Aufgabe der Sozialdemokratie lag auf politischem Gebiete. Sie mußte die deutsche Regierung stürzen, die politische Macht erobern und Frieden schließen.“ sagte Kurt Eisner in Bern nach dem Ende des ersten Weltkrieges.

Und Rosa Luxemburg rief 1916 in Erinnerung, dass die bürgerliche Gesellschaft ihr wahres Gesicht zeigt, wenn sie bereit ist, in Blut zu waten. Das gilt um so mehr für kapitalistische Staaten, seien es nun Russland, die Ukraine oder die USA. Das gilt für 1914 ebenso wie für 2023. Wir sollten uns endlich der herrschenden, imperialen Logik, ihrem Freund-Feind-Denken entziehen und die Worte Rosa Luxemburgs als gefährliche Erinnerung bewahren:

„Das Geschäft gedeiht auf Trümmern. Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Länder zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kirchen zu Pferdeställen; Völkerrecht, Staatsverträge, Bündnisse, heiligste Worte, höchste Autoritäten in Fetzen zerrissen; jeder Souverän von Gottes Gnaden den Vetter von der Gegenseite als Trottel und wortbrüchigen Wicht, jeder Diplomat den Kollegen von der anderen Partei als abgefeimten Schurken, jede Regierung die andere als Verhängnis des eigenen Volkes der allgemeinen Verachtung preisgebend …“

Das nicht rechtzeitig gesehen zu haben, war das große Versagen der Linken 1914, und das ist das große Versagen der Linken 2023, die wieder einmal meint, dem Krieg ein Ende machen zu können, in dem sie ihn unterstützt. Es bleibt dabei, es muß endlich getan werden: „Diesem System keinen Menschen und keinen Groschen!“

exil Münster

Mai 2023

Autor*in
exil