Im Folgenden der Redebeitrag der Gruppe AK Zu Recht auf der Kundgebung "Notstand der Menschlichkeit" am 6.Juli 2019:
Notstand bei der Seenotrettung
Heute möchten wir über die Kriminalisierung von Seenotrettung sprechen.
Wer auf See einen Notruf oder Kenntnis von einem Unglück erhält MUSS eingreifen und mit eigenem Schiff helfen. Diese Pflicht besteht völkergewohnheitsrechtlich wie auch völkervertragsrechtlich vorgesehen in verschiedenen Seerechtsübereinkommen (Search-and-Rescue-Konvention, die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen, das Internationale Abkommen über Seenotrettung …).
Seenotrettung ist also ein Muss und nicht rechtlich verhandelbar. Allerdings wird sie zunehmend auf vielen Ebenen kriminalisiert:
Was meinen wir mit Kriminalisierung?
Mit Kriminalisierung meinen wir die Änderung von Gesetzen und die Ausweitung der Auslegung von Gesetzen, die zur Strafbarkeit von Handlungen führt.
Zum Beispiel: Durch das kürzlich verabschiedete Hau-Ab-Gesetz wird die Weitergabe von Abschiebungsterminen zum Dienstgeheimnis erklärt. Die Handlung, also die Weitergabe von Informationen, bleibt die gleiche. Doch macht sich die Person, die einen Abschiebungstermin weitergibt jetzt strafbar.
Auf verschiedensten Ebenen wird auch die Seenotrettung u.a. durch die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Unionkriminalisiert und behindert. Hier nur einige Beispiele:
- Kriminalisierung durch die (Nicht-)Zulassung von Schiffen, wenn der Verdacht besteht, dieses werde zur Seenotrettung eingesetzt.
- Bereits erteilte Zulassungen werden Search-and-Rescue-Schiffen nachträglich entzogen. Begründet wird dies auch damit, die Begehung von Straftaten verhindert werden soll, da gegen die Crewmitglieder wegen Beihilfe zur illegalen Grenzüberschreitung ermittelt wird.
- Doch Schiffe werden nicht nur am Auslaufen, sondern auch am Einlaufen gehindert. Dem italienischen Schiff Mare Jonio wurde im März erstmals die Einfahrt in einen italienischen Hafen verwehrt. Auch der Aquarius (August 2018 mit 141 Geretteten)und der Sea Watch 3 (im Mai und jetzt wieder im Juni) wurden ein sicherer Hafen verwehrt.
Die Kriminalisierung von Aktivist*innen vor Ort erfuhr erst diese Woche eine neue Eskalationsstufe. Die Kapitänin Carola Rackete wurde von der italienischen Polizei festgenommen. Mittlerweile wurde sie zwar wieder frei gelassen, doch wird sie von der Staatsanwaltschaft in Agrigento (Sizilien) beschuldigt, sich durch die unerlaubte Einfahrt in italienische Küstengewässer, durch die Nichtbeachtung des Anlegeverbots im Hafen von Lampedusa und durch das Rammen eines Polizeischiffs bei der Einfahrt in den Hafen strafbar gemacht zu haben. Ihr droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Außerdem könnte die Organisation Sea Watch, wie schon der Kapitän Reisch von der Lifeline im Mai 2019 (10.000 €), zu einem Bußgeld bis zu 50.000 € verurteilt werden. Am 12. Juni hatte die Sea-Watch 52 Personen gerettet.
Die Festnahme von Carola ist nur der Höhepunkt der Kriminalisierung von Aktivist*innen. Allein 2018 wurden insgesamt 99 Menschen aufgrund ihrer Hilfeleistungen angeklagt oder verurteilt (2017 waren es noch 45 Personen). Teilweise wird ihnen auch Menschenschmuggel, was bedeuten würde, dass sie mit dem Ziel handeln, sich einen Vorteil zu verschaffen,und die Zusammenarbeit mit Schleppern vorgeworfen. Klare Beweise für diese Vorwürfe konnten in keinem der Gerichtsverfahren vorgelegt werden.
Diese Abschottungspolitik der Festung Europa kommt nicht von irgendwo, sondern folgt der Logik des europäischen Grenzregimes, welches eingebettet ist in die Struktur der globalen, kapitalistischen Gesellschaft, welche die ihr immanenten Krisen nicht bewältigen kann.Nationalistische Migrationspolitik führt zu einer inhumanen Abschottungspolitik. Wertungswidersprüche des Konstrukts „Nationalstaat“ werden deutlich. Wie zum Beispiel die vielfach betonte Universalität der Menschenrechte im Kontrast zum Sterben an den Grenzen mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse.
Dies zeigt sich aktuell neben der Kriminalisierung von Seenotrettung auch an anderen Punkten: Migrant*innen werden nach einer Logik des Ausnahmezustands behandelt und strukturell entrechtet.Aktivist*innen erfahren Repressionen bei ihrer Arbeit und solidarische, humane Verhaltensweisen werden kriminalisiert.
Und trotz der Kriminalisierung jener Verhaltensweisen, gibt es immer mehr solidarische Aktionen. So auch heute. Sie sind eine Antwort auf die große Zahlan Todesfällen und die Gefahren des europäischen Grenzregimes. Gesetze und Praktiken der EU, die zum Widerstand führen, werden und müssen weiter hinterfragt und angezweifelt werden. Allein die Tatsache, dass es ein zur Diskussion stehendes Politikum ist, Leben zu retten, reicht aus um das bestehende System der Grenzen und der Ausbeutung zu hinterfragen.
Seenotrettung ist keine kriminelle Handlung, sondern eine lebensrettende Notwendigkeit!
Wir fordern die Einrichtung von legalen und sicheren Fluchtrouten nach Europa.
Wir fordern einen Stopp der EU- Förderung von autoritären Regimen und Milizen, durch die Menschen sich gezwungen sehen ihr Leben auf dem Weg nach Europa aufs Spiel zu setzen und wenden uns grundlegend gegen das kapitalistische Herrschaftssystem.
Wir fordern ein sofortiges Ende der Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung, die Einrichtung einer europaweiten, staatlichen Rettungsmission, sowie die Förderung der zivilen Seenotrettung!
Wir fordern, eine aufrichtige Politik, Städte der Zuflucht, Humanität, Verteidigung der Menschenrechte und unbedingteSolidarität.
Gegen die Festung Europa! Seenotrettung ist kein Verbrechen!