Coronakapitalismus

Zeit der Krise, Zeit für Aktionen statt für Analyse? Eben nicht, argumentieren die Genoss*innen der IL Münster und fragen, was uns Corona über den neoliberalen Kapitalismus und staatliche Herrschaft lehrt. Dieser Text erschien zuerst auf dem Debattenblog der IL*.

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Verantwortung übernehmen, Nachbarschaftskollektive gründen, die Lage analysieren?

Nach einer kurzen Schockstarre zu Anfang der Pandemie und der staatlich angeordneten Lockdown-Maßnahmen, in der die bundesrepublikanische Linke zunächst sprachlos wirkte, gibt es nun doch eine beträchtliche Zahl von Artikeln, Diskussionen und Forderungskatalogen verschiedener Akteur*innen der außerparlamentarischen Linken zu Corona. Dabei lassen sich mit den Phasen der Pandemie und der staatlichen Coronapolitik unterschiedliche Stoßrichtungen erkennen.

War im Februar und Anfang März Corona für die meisten Linken kein Thema, mit dem man sich beschäftigte oder politisch auseinandersetzte, und wurde die sich ausbreitende Corona-Hysterie von den meisten von uns eher belächelt (noch am 8. März zum Weltfrauenkampftag tauchte das Thema Corona kaum auf), schlug die Stimmung Mitte März um: Plötzlich wurden noch vor einer staatlichen Anordnung linke Veranstaltungen, Plena, Gruppen- oder Bündnistreffen abgesagt oder in den digitalen Raum verlegt. Kollektivkneipen, soziale Zentren und andere Orte schlossen in Windeseile ihre Türen. Der Diskurs kreiste vor allem um die Frage der Verantwortungsübernahme für die Nicht-Ausbreitung der Pandemie und den medizinischen Schutz. Einige Linke witterten schnell die Chance, angesichts eines als überfordert wahrgenommenen staatlichen Gesundheitssystems Selbstorganisation zu propagieren. Es sollten Nachbarschaftskollektive zur Versorgung von Risikogruppen gegründet werden. Schnell wurden zudem Forderungen nach dem Schutz von besonders vulnerablen Gruppen wie Geflüchteten oder Wohnungslosen laut.

Ein vernünftiger Staat?

Als der Staat schließlich mit Maßnahmen wie der Schließung von Geschäften und Aufstockung der Bettenkapazitäten in den Krankenhäusern gegen die Pandemie zu Felde zog, konnte man den Eindruck bekommen, dass in linken Kreisen so etwas wie Erleichterung aufkam, es mit einem Staat zu tun zu haben, der in Teilen »vernünftig« auf eine Bedrohung zu reagieren schien: Virolog*innen waren nun in der Politik wie in den Medien geschätzte Berater*innen, kapitalistische Wirtschaftsinteressen schienen dem Gesundheitsschutz untergeordnet und die Menschen bereit, zum Schutz der Gesundheit und der anderen auf Teile des hektischen Konsumlebens zu verzichten. Einige Linke mutmaßten bereits, dass dem neoliberalen Kapitalismus ein entscheidender Schlag versetzt worden sei und kritisierten, dass die Klimakrise nicht ebenso energische Maßnahmen hervorgerufen habe wie Corona. Andere konzentrierten sich auf eine Kritik der autoritären staatlichen Maßnahmen, die etwa durch das Versammlungsverbot massiv in die Grundrechte eingriffen und es zugleich erschwerten, wirkungsvoll Protest zu artikulieren.

Nichts spricht dagegen, Nachbarschaftshilfe zu organisieren, kollektive solidarische For¬men des Lebens in der Coronakrise zu erproben oder den mangelnden Schutz vulnerabler Gruppen anzuprangern. Als linke Antwort auf die Corona-Pandemie scheint es uns allerdings zu kurz zu greifen. Statt zu überlegen, ob wir diese oder jene staatliche Maßnahme richtig oder falsch finden, oder Forderungen aufzustellen, deren Durchsetzung unter den gegebenen Umständen weit außerhalb unserer Möglichkeiten liegt, ist es geboten, den offenbarenden Charakter der Corona-Pandemie wahr- und ernstzunehmen: Was lehrt uns Corona über den neoliberalen Kapitalismus? Um die stattlichen Reaktionen und ihre ideologischen Grundannahmen zu verstehen, müssen wir nach einer Analyse der momentanen Situation suchen. Anders als manche behaupten, ist Analyse in dieser Situation kein Zeichen der Ohnmacht, sondern sollte alle unsere Versuche in der Krise handlungsfähig zu bleiben begleiten, um uns die Möglichkeit zu eröffnen, den herrschenden Diskursen nicht selbst auf den Leim zu gehen, sondern eine kritische Distanz zu entwickeln, die uns wirksame Interventionen erlaubt. Kritikfähigkeit im Sinne einer radikalen Kritik, die auf das gesellschaftliche Ganze zielt, wiederzugewinnen muss das Ziel linker Analyse und Ausgangspunkt unserer Interventionen sein.

Wir und Frau Merkel

Bei einer solchen Perspektive geht es nicht in erster Linie darum zu durchschauen, welche medizinischen Konzepte zur Bewältigung der Corona-Situation die besten sind und welche Maßnahmen von Frau Merkel vernünftigerweise zu ergreifen oder zu unterlassen wären. Zentral muss es sein, aufzuspüren, wie ein bestimmtes politisches Handeln die zugrundeliegenden Widersprüche spiegelt, die unsere Gesellschaft durchziehen.

Konkrete Forderungen aufzustellen, wie zum Beispiel Geflüchtete dezentral statt in Sammelunterkünften unterzubringen, die Bedingungen für Pflegende zu verbessern oder Maßnahmen so zu gestalten, dass sie nicht auf Kosten derer ausgetragen werden, die schon vor Corona sozial schlechter gestellt waren, mag richtig und wichtig sein. Doch müssen wir verstehen, in welche gesellschaftlichen Kontexte die Corona-Pandemie hineinwirkt und welche politischen, ökonomischen und ideologischen Orientierungen den Umgang mit der Pandemie bedingen sowie mit welchen Mitteln sie in der Pandemie weiter fortgeschrieben, modifiziert und legitimiert werden. Es kann also nicht um den »richtigen« Umgang mit der Pandemie in einer befreiten Gesellschaft gehen, sondern darum, den realen Umgang unter den bestehenden Verhältnissen zu kritisieren. Diese Kritik am realen Umgang mit der Pandemie unter den bestehenden Verhältnissen kann vor der bundesrepublikanischen Linken, vor uns selbst also, nicht halt machen: Denn auch in unseren Reaktionen auf die Corona-Pandemie spiegelt sich schließlich der gesellschaftliche Diskurs.

Was sind unsere Anknüpfungspunkte?

Epidemologie politisch diskutieren

Die erste Aufgabe besteht darin, Corona politisch zu diskutieren. Wir haben es mit ungewöhnlich tiefgreifenden und umfassenden staatlichen Entscheidungen zu tun, ohne dass eine Diskussion darüber stattfindet. Ein paar Virolog*innen geben den Ton an, als gäbe es eine vermeintlich objektive Wissenschaft. Doch sind es politische Entscheidungen, die auf der Grundlage höchst beschränkten Wissens über ein neuartiges Virus getroffen werden, aber über das Leben Hundert¬tausender entscheiden können.

»Flatten the curve« und Sorge um Dein Leben?

Die Analyse des staatlichen Umgangs mit der Pandemie muss seinen politischen Inhalt aufdecken. Nach einem Zick-zack-Kurs wurde am 12. März klar: »Flatten the Curve«! Eine Überlastung des Gesundheitswesens sollte vermieden werden – genau jenes Gesundheitssystems, das durch neoliberale Einsparungen schon längst an seine Grenzen gekommen war. Die staatliche Sorge gilt der »Volksgesundheit« oder, in der Sprache des neoliberalen Managements: »public health«. Niemand sollte das mit der Sorge um die Gesundheit eines jeden Einzelnen verwechseln, wie Bundestagspräsident Schäuble klarstellte, als er darauf hinwies, dass der Schutz des Lebens kein absoluter Wert sei. Die Schädigung der Wirtschaft darf nicht weiter gehen, als unbedingt erforderlich. Der Kampf gegen ein Virus, das die Atemwege der Menschen befällt und schädigt, darf »der Wirtschaft« nicht auf Dauer die Luft zum Atmen nehmen.

Imperialistische Konkurrenz

Die Krise ist die Zeit der Nationalstaaten und der staatliche Umgang mit der Pandemie ist geprägt von der Konkurrenz der Nationalstaaten. Das zeigt sich an vielen Stellen: in der Propaganda der Hilfeaktionen so wie in der Diskussion um »Corona Bonds«. Wie schon in der Eurokrise geht es darum, dass die günstigen Zinssätze, die Deutschland für die erheblichen Kreditaufnahmen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zahlt, auch künftig ein Standortvorteil gegen die Konkurrenten innerhalb der EU sind, die deutlich höhere Zinsen zahlen werden.

Die Dialektik zwischen dem Staat als ideellem Gesamtkapitalist und dem auf seine individuellen Interessen reduzierten Subjekt**

Selten wie nie wird deutlich, wie diese Gesellschaftsordnung einerseits den Einzelnen auf die Verfolgung seiner Interessen in Konkurrenz zu anderen verweist und andererseits der Staat als ideeller Gesamtkapitalist regulierend eingreift, soweit dies zur Aufrechterhaltung des »Normalzustands« erforderlich ist. Der Staat beschränkt die Möglichkeiten, die jeweiligen Partikularinteressen zu verfolgen, in dem Maße, in dem er das für das weitere Funktionieren der Gesamtgesellschaft als notwendig erachtet. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, auch mit Zwang, mindert er den Profit des Kapitals, um Aufgaben zu übernehmen, die er für das Funktionieren des Kapitalismus für notwendig hält. Den staatlichen Zwang erlebt der Einzelne als die Beschränkung seiner individuellen Interessen. Er wird aufs Gehorchen (Mundschutz, Abstandsregeln) verwiesen und zugleich in seiner Eigenverantwortlichkeit angerufen. Ansonsten muss er sich durchschlagen. Der Widerspruch zwischen staatlichem Zwang und persönlicher »Freiheit« kann in dieser Gesellschaftsordnung nicht aufgelöst werden. Dazu muss sie praktisch überwunden werden.

Öffnungsdiskussionen

Nach einigen Wochen Lockdown war eine Diskussion über das Weiter unumgänglich. In den Medien wird sie so dargestellt, als gäbe es zwei Positionen, zwei »Pole«: diejenigen, die zur Vorsicht mahnen, deshalb nicht zu schnell öffnen wollen und disziplinierendere Maßnahmen gutheißen, und diejenigen, die vor allem mit dem Blick auf die Wirtschaft schnelleres Öffnen befürworten. Zu einer besseren argumentativen Ausstattung der Positionen wurde auf der einen Seite die Vorsicht und die Verantwortung gegenüber den Vulnerablen, auf der anderen die unzumutbare Einschränkung der Bürgerrechte bemüht. Wir halten dieses Bild für problematisch: Zum einen suggeriert es so etwas wie eine funktionierende öffentliche Diskussion, an der viele Bürger*innen teilnehmen. Zum anderen findet sich das Bild findet sich auch linken Zusammenhängen, ohne dass darüber hinaus gegangen würde. Beide Positionen/Pole mögen auf etwas Richtiges verweisen, treffen aber nicht den entscheidenden Punkt der Kritik am Corona-Kapitalismus.

Worum geht‘s im Spiel?

Beide Positionen laufen auf ein gemeinsames Interesse hinaus, das unhinterfragt die Klammer um die gegenwärtige Situation bildet: dass das Projekt Kapitalismus weitergeht. Und zwar in seiner – modifizierten – neoliberalen Variante. Beide Positionen schließen eine grundlegende Kritik aus. Man hat genug damit zu tun hat, das Für und Wider der verschiedenen Maßnahmen zu diskutieren, und es gelingt, praktisch alle in diesen Dauerdiskurs einzutauchen. Wir haben es hier nicht mit irgendwie antagonistischen Polen zu tun: die autoritären Rechten gegen die Liberaleren, denen die Bürgerrechte noch wichtig sind. Vielmehr brauchen die Positionen einander. Insofern sie das vermeintliche Funktionieren der öffentlichen Diskussionen widerspiegeln, suggerieren sie Demokratie. Das Ziel des Spiels: die Absicherung des Status quo bzw. die Wiederherstellung der vollständigen Funktionsweise des Marktes.

Die Leopoldina und das neoliberale Krisensubjekt

Es gibt eine Schlüsselsituation, in der dies deutlich geworden ist. Am Mittwoch, den 15. April, in der Besprechung der Regierungsvertreter*innen aus Bund und Ländern und am selben Abend in der Erklärung von Angela Merkel. In dieser Erklärung gab sie die Maßnahmen bekannt, die zu einer allmählichen Öffnung führen sollten. Zwei Tage vorher hat die nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina Empfehlungen abgegeben, wie denn die Öffnung vonstatten gehen könnte. Einige dieser Vorschläge finden sich am 15. April in der Regierungsverlautbarung wieder.

Das aber ist nicht der entscheidende Punkt. Vielmehr markiert das Papier die Zielvorstellungen des stattfindenden Prozesses wie kaum ein anderes. Zumindest interessant ist, dass diese »liberalen« Empfehlungen sofort von der AfD begrüßt wurden. Die neoliberale Grundausrichtung wird an allen Stellen deutlich und sie ist nicht nur am Ökonomischen ablesbar. Das Papier liefert eine marktradikale Ausrichtung und das dazugehörige neoliberale Krisensubjekt.

Marktöffnung, Einzelkredite und für jeden noch ein Dauerrisiko

  1. Explizit wird dazu aufgefordert, alle Staatseingriffe rückgängig zu machen sowie den Markt wieder zur vollen Entfaltung zu bringen. Dazu sollen aus der Krise heraus Nachhaltigkeit und Wachstum zusammengebracht werden, weil hier die besten Kapitalverwertungsmöglichkeiten bereitstehen: »Green Deal«.

  2. In Bezug auf europäische Finanzpolitik wird der deutsche Vorschlag propagiert: keine europäisch-gemeinsame Schuldenübernahme, sondern Kredite an die einzelnen Mitglieder (durch die dann deutsche Banken Zinsgewinne erzielen können), das Beste für die Exportnation Deutschland: »Für das Exportland Deutschland ist ein starkes und geeintes Europa unverzichtbar.«

  3. Und wie schon spätestens seit der Weltwirtschaftskrise 2006-2008 und im Angesicht der ökologischen Katastrophe ist der Begriff der Resilienz zentral. Er markiert einen Fluchtpunkt der aktuell stattfindenden Entwicklung, nämlich das Subjekt oder wie Mensch im Coronakapitalismus werden soll: resilient und darauf vorbereitet, dass er einem Dauerrisiko ausgesetzt ist. Die Krise ist permanent! Wichtig dabei: Man muss die Kommunikation gut hinkriegen, dann akzeptieren die Menschen das (die aktuelle Mediendauerschleife). Dabei wird auf Maßnahmen gesetzt und auf Verantwortungsübernahme in individueller Freiheit. Interessant ist wohl nicht so sehr, welche Maßnahmen ergriffen werden und welche nicht, sondern wie die Stoßrichtung aussieht, um den Kapitalismus auf die sich weiter verschärfenden Krisen vorzubereiten!

Auch wenn das Leopoldinapapier im Moment nicht zur Gänze umgesetzt wird, erfüllt es eine Funktion und unterstützt einen Politikstil, der nun endgültig flächendeckend angekommen ist. Der von Merkel in die Welt gebrachte Satz »Wir fahren auf Sicht« ist Allgemeingut geworden. Er wird von Virolog*innen und in Alltagsgesprächen benutzt. Er verhindert, die Situation – egal ob mit oder ohne Corona – überhaupt verlassen zu können. Das auf Sicht fahrende Subjekt ist dasjenige, das keine Perspektive mehr entwickeln kann, ja, sie auch nicht mehr braucht, weil es sowohl eine grundlegende Kritik an den Verhältnissen, wie sie sind, als auch die Idee einer anderen Welt ad acta gelegt hat. Ihm bleiben die (notwendigen) Maßnahmen und Forderungen, die mit dem verwechselt werden, worum es in den politischen Auseinandersetzungen eigentlich gehen müsste.

Autoritäre Formierung – oder: Gibt es noch andere Gefährder außer Corona?

Autoritäre Formierung und die Krise der parlamentarischen Demokratie beherrschen die politische Lage in der BRD bereits seit Jahren. Zur autoritären Formierung gehören die neuen Polizeigesetze und ihre Normalisierung eines militarisierten Sicherheitsdiskurses sowie der gigantische Aufstieg der AfD, vor allem die Übernahme vieler ihrer politischen Argumentationsfiguren in den Diskurs der sogenannten bürgerlichen Parteien (z.B. in der Geflüchtetenpolitik). Der Krise der parlamentarischen Demokratie als Begründungsideologie der herrschenden Blöcke in der BRD wird schon seit geraumer Zeit mit der Aushöhlung des bürgerlichen Rechts entgegengearbeitet. Dazu gehört z.B. das sogenannte Feindstrafrecht, also die Möglichkeit von Strafverfolgung und präventiven Maßnahmen gegen sogenannte »Gefährder«. Darin zeigt sich zugleich eine gesamtgesellschaftliche Situation, insofern die neuen Polizeigesetze eine in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitete Position widerspiegeln, wonach Rechtsverhältnisse als überflüssig erscheinen.

Ausnahmesituation und Ausnahmezustand

Hier stoßen wir auf den Begriff des Ausnahmezustands, der im Alltagsdiskurs häufig mit einer »Notsituation«, einer außergewöhnlichen Gefährdungssituation, verwechselt wird. Aber der Ausnahmezustand ist etwas anderes. Der »Ausnahmezustand« verweist im engeren Sinne auf die Aussetzung des Rechts, er beschreibt die Aufhebung des Rechts. In diesem Sinne ist die Nutzung des Begriffs des Ausnahmezustandes nach der politischen Theorie des faschistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt momentan nur eine Analogie: Es gibt immer noch rechtliche, wenn auch immer häufiger nicht-gesetzliche Regelwerke wie z.B. Verordnungen und Verfügungen, die durch Horrorszenarien wie bei Hamburg und G20, Ellwangen (der Aufstand der Geflüchteten), dem Hambacher Forst (und seinen Waffenlagern und Tunnelsysteme) oder Corona (in der neuen Macht der »Ordnungsämter«) bebildert werden.

Zwar berufen sich die Herrschenden momentan auf das sog. Infektionsschutzgesetz, regieren seitdem aber hauptsächlich mit Allgemeinverfügungen und Verordnungen, also nicht mit Gesetzen, die durch die politischen Institutionen legitimierten wären. So sagte der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann am 30. April in der SZ: »Ob die dünne Ermächtigungsgrundlage durch das Infektionsschutzgesetz ausreicht, um diese weitgehenden Freiheitseinschränkungen zu rechtfertigen? Die sind praktisch ausschließlich im Verordnungsweg, also nicht von den Parlamenten, sondern von den Regierungen so beschlossen worden. Eigentlich hätten die Gerichte sagen müssen: Das reicht als Grundlage für diese Eingriffe nicht aus.«

Verfügungen und Verordnungen werden immer wieder mit Verweis auf die andauernde »Ausnahmesituation« verlängert, ja ihre Fortdauer auch damit begründet, dass sonst die Ausnahmesituationen (Infektionsraten, steigende R-Zahlen, Überlastung des Gesundheitssystems etc.) fortdauern könnten. Auf diese Wiederkehr Schmittscher Begrifflichkeiten und Denkweisen hatte der italienische Philosoph Giorgio Agamben schon vor Jahren hingewiesen: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand (also über die Aussetzung oder über die alleinige Interpretation des Rechts) herrscht.«

Also doch: Kapitalismus ohne Demokratie

»Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie«, so lautete unser Slogan während der Blockupy-Proteste. Wer konnte ahnen, wie schnell das Wirklichkeit werden würde. Der Ausnahmezustand hält an, die ersten Geschäfte werden wieder geöffnet, VW brauchte gar nicht um Erlaubnis zu fragen, die Produktion wieder in Gang setzen zu dürfen, aber der Protest gegen die Zustände in den Lagern gilt immer noch als Verstoß gegen die Infektionsschutzverfügungen. Die Corona-Verordnungen erweisen sich als ein riesiges gesellschaftliches Laboratorium, wie wenig Demokratie, wie wenig Freiheit diese Gesellschaft braucht. Es scheint, als ob es nur noch den Staat und die Ordnung einerseits und das Chaos und die Anarchie andererseits gibt. So heißt es im Strate¬giepapier von Horst Seehofer dann auch konsequent:

»Die deutsche Volkswirtschaft ist eine Hochleistungsmaschine, die Jahr um Jahr ein hohes Maß an materiellem Wohlstand und allen Bürgern zugänglichen öffentlichen Gütern wie einer umfassenden Gesundheitsversorgung und öffentlicher Sicherheit bereitstellt. … Sollten die … Maßnah¬men zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnte im Sinne einer ›Kernschmelze‹ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert.«

Auch gegen die Einwände einiger Jurist*innen, die allgegenwärtige Drohung mit dem rein physischen Tod durch Corona mache vergessen, dass nicht das Leben als nacktes Leben, sondern die Würde des Lebens unantastbar ist, reagiert jetzt erst nach langem Schweigen der politischen Klasse Wolfgang Schäuble und nimmt das Argument der Würde des menschlichen Lebens (»… sie schliesst nicht aus, das wir sterben müssen ...«) auf – nicht, um ein nachdenkliches Gespräch über das menschliche Leben und die Freiheit zu initiieren, sondern um die kapitalistische Gesellschaftsmaschine wieder ans Laufen zu bekommen. Riskieren wir unser Leben für die Freiheit oder für den Kapitalismus? Kann man an nichts anderem sterben als an Corona – z.B. an Arbeitsbedingungen oder Ausbeutung? Wir brauchen Demokratie ohne Kapitalismus, wenn uns unsere Freiheit etwas wert ist.

Öffentlicher Raum, Medialität, Virtualität

Der Ausnahmezustand zeigt die Verhältnisse anders auf als der kapitalistische Alltag. Das gilt auch für den Ausnahmezustand durch Covid-19. Die Verhältnisse werden durch das autoritäre Eingreifen des Staates sichtbarer. Was sichtbar wird, lässt sich aber auch einfacher/anders agitieren. Die Vulnerabilität des aktuellen Zustands scheint dem Staat durchaus bewusst: Versammlungen werden verboten, obwohl es aus infektiologischer Sicht keine Argumente dafür geben kann. Der Infektionsschutz ist bei Kundgebungen auf offener Straße deutlich leichter als in Supermärkten, Logistikzentren oder Großraumbüros. Bevor das Virus unseren Alltag verändert hat, hätte sich niemand an ein paar Menschen mit Schildern gestört, heute ist das anders. Auch Einzelpersonen mit politischen Botschaften werden von der Polizei und vom Ordnungsamt drangsaliert, selbst kleinste Kundgebungen sind ein Dorn im Auge der öffentlichen Ordnung. Die Rolle des öffentlichen Raumes hat sich in den letzten Wochen verändert. Was zuvor kaum Aufmerksamkeit erregt hat, scheint jetzt ein Problem darzustellen.

Der öffentliche Raum wird zum knappen Gut

Straßen, Parks und Plätze sind ebenso mediale Räume wie Internet und Fernsehen, auch sie sind konsumierbar. Die Medialität des öffentlichen Raumes hat einen unterwerfenden Charakter. Die Straße ist Schauplatz der Ellenbogengesellschaft. Ein Großteil der Konsumierbarkeit wurde durch Corona eingestellt und der unterwerfende Charakter hat sich verändert: Jetzt prägen ihn Maskenpflicht, Abstandsregeln und Gruppenverbote.

Leben und Arbeit wurden weitestgehend in Wohnungen und Privaträume verbannt, die Straße, vielmehr das Draußen, hatte sich (für die meisten in Deutschland während des Lockdowns) deutlicher zu einem Ort der Ruhe und Erholung gewandelt; Flucht vor dem Home Office, Abstand vom Alltag oder digitale Pause findet sich an der frischen Luft. Draußen wird mehr zum Ort der Pause. Das verändert auch die Rezeption in diesem Raum, Kleinigkeiten fallen mehr auf und regen eher zum Denken an.

Im Zuge der Veränderung schließen sich Spielräume, während sich andere zeigen. Der öffentliche Raum schrie geradezu danach, von der trügerischen Corona-Stimmung befreit und zu einem Raum der Agitation gemacht zu werden. Wenn nichts mehr ablenkt, eröffnen sich Räume für Neues und Inhalte, die aus dem täglichen Corona-Trott ausbrechen. Manch alte Aktionsformen sind nicht mehr möglich, vielleicht, weil sie aus Gründen des Infektionsschutzes tatsächlich nicht sinnvoll sind. Dafür ergeben sich neue Möglichkeiten, unsere Botschaften zu verbreiten.

Die virtuelle Welt – ein entsinnlichter Raum

Digitale Ergänzungsangebote sind notwendig, aber wir dürfen uns auch nichts vormachen: Im virtuellen Raum gibt es wenig Konfrontation – und wenn doch, ist sie ganz anders als auf der Straße. Die virtuelle Welt, die durch Covid-19 noch mehr Besitz von uns ergriffen hat, ist ein entsinnlichter Raum, der die Vereinzelung vorantreibt.

Nach COVID-19 ist vor COVID-20, viele Stellschrauben, die jetzt weiter gedreht wurden, lassen sich nicht so einfach zurückdrehen. Befürworter*innen der Digitalisierung sehen am Horizont die »Ferngesellschaft« erscheinen: Alles kann telematisch ohne direkten Kontakt erledigt werden. SARS-CoV-2 ist im 21. Jahrhundert auch ein »digitales« Virus und wir laufen Gefahr, einen weiteren Teil der Sinnlichkeit zu verlieren, die uns als Menschen ausmacht. Der Tastsinn wird nicht erst seit gestern durch digitale Medien verdrängt und an den Bildschirmen vom Sehsinn ersetzt. Corona ruft das »digitale Subjekt« hervor.

Der Kapitalismus wird durch die Digitalisierung immer mehr zu einem visuellen, eine Tendenz, die zum Beispiel in der Werbung schon früh angelegt ist. Das »digitale Subjekt« erfährt die Welt mit den Augen, der Bildschirm ist der Zugang zur Welt. Er schirmt uns ab, die Materialität der Welt geht uns verloren.

Selbstkontrolle, Materialität und Entkörperlichung

Das Papier der Leopoldina, das im Interessengewirr schon wieder zurücktreten musste, forderte die Rückgabe der Selbstkontrolle und die Übernahme von Resilienzverantwortung durch die Bevölkerung. Hinter all dem, was uns in den letzten Wochen und Monaten anempfohlen und verordnet worden ist, verbirgt sich eine zutiefst asketische Entkörperlichung und Entmaterialisierung des Lebens, wie sie im Arbeitsethos der protestantischen Ethik von Max Weber beschrieben war. Resilienz und Selbstkontrolle sind sozusagen »protestantische Ethik 3.0«, die den Kapitalanforderungen des globalisierten Silicon Valley entspricht.

Auch hier darf uns Giorgio Agamben nachdenklich machen, wenn er die Frage stellt, wie es dazu kommen konnte, dass wir unsere geliebten Sterbenden dem einsamen Tod und ihre Freund*innen der einsamen Trauer überlassen? Wie konnte es dazu kommen, dass wir unsere Freundschafts- und Liebesbeziehungen einem nicht definierbaren Infektionsrisiko opferten und uns so mit uns selbst zurückließen? Wie konnten wir, insbesondere wir als Linke, die Materialität des Lebens vergessen, vergessen, dass es nur wenig Zeichen und Bekundungen von Freundschaft und Liebe jenseits der Berührung gibt? Social Distancing und Maskenpflicht spannen uns in tiefes Misstrauen gegen die Anderen ein und sind keineswegs Zeichen der sorgenden Fürsorge. Das gibt denen, die sich beides nicht leisten können, weil ihr Leben am Ende der Wertschöpfungsketten sowieso nichts zählt, zynischerweise einen befristeten Menschlichkeitsvorsprung. Wir hingegen können uns mit dem Eintauschen unserer Freiheit gegen das hohe Gut des gesunden Volkskörpers beruhigen. Auf diese Weise können wir den Anforderungen des Kapitals gerecht werden.

Wenn Silvia Federici von Enthaltsamkeit und Abstinenz als letztem Schritt von einem langen Prozess des Kapitals spricht, der uns den sinnlich-sexuellen Inhalt unseres Lebens und unserer Begegnung mit anderen Menschen nimmt, ist genau das gemeint. Die physische Berührung, so schreibt sie, wurde durch das Bild vor dem geistigen Auge ersetzt: Amorelie.de muss reichen. Die Berührung wird überflüssig, und unser Antlitz erreicht den Anderen hinter der Maske nicht mehr. Mitten in der Öffentlichkeit verschwinden wir füreinander und werden Beteiligte eines Prozesses, der durch das Virus befeuert wird.

Mehr als Anwaltschaft, mehr als Staatskritik

Nur wenn wir verstehen, dass es um mehr geht als das Virus, nur wenn wir anfangen die Logik der Veränderungen, die der neoliberale Kapitalismus wie die staatliche Herrschaft darin durchlaufen, zu durchschauen und im Zusammenhang der Veränderung der modernen Gesellschaften und ihrer Subjekte zu begreifen, können wir Kritikfähigkeit zurückgewinnen und schrittweise Wege einer wirklich radikalen Antwort auf die Situation finden.

Eine solche Antwort geht über die Anwaltschaft für benachteiligte Gruppen hinaus: sie bemängelt nicht einfach diese oder jene Versäumnisse staatlichen Handelns, sondern stellt infrage, welchen Logiken und damit welcher Rationalität das staatliche Handeln insgesamt folgt. Denn diese Rationalität ist, obwohl oder gerade weil sie auf (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, niemals einfach neutral oder objektiv, sondern immer schon an ein bestimmtes Erkenntnisinteresse und an Diskurse geknüpft, die ihrerseits nicht frei von Machteffekten sind. Erst diese Machteffekte in ihrer umfassenden Wirkungsweise zu erkennen, macht es möglich, strategisch nach Perspektiven zu suchen, wie sie in Frage gestellt, angegriffen und schließlich überwunden werden können.

 

Bild: «Analysing the Shadow Self» von Paul Walker.

 

Autor*in
IL* Münster