Objektivität als Ideologie?
Dr. Christine Zunke
Do., 14.02.2019
Beginn: 19 Uhr (s.t.)
Raum: Baracke (Scharnhorststraße 100)
In seinen von 1830 bis 1842 geschriebenen Arbeiten zur Positiven Philosophie forderte Auguste Comte, dass die Wissenschaft von den Fragen nach dem Wesen der Dinge ablassen und sich endlich den Tatsachen zuwenden solle. Das Positive, das tatsächlich Vorhandene und Messbare möglichst ohne subjektive Verzerrungen darzustellen wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zum neuen Ideal der Naturwissenschaften. Hiermit fand eine erkenntnistheoretische Wende statt – weg von der 'Naturwahrheit' und hin zur empirischen 'Objektivität'. Dieser Wechsel von der Suche nach dem Wesentlichen zur Darstellung objektiver Tatsachen veränderte den Charakter der modernen Wissenschaften grundsätzlich.
In ihrem 2007 erschienenen Werk Objektivität zeigten Lorraine Daston und Peter Galison, dass sich hiermit zugleich der ideale Typus des Wissenschaftlers radikal veränderte. Während Goethe noch den Geist des Genies als unhintergehbare Bedingung jeder wissenschaftlichen Erkenntnis pries, schrieb Darwin in seiner Autobiographie, dass „nicht schnelle Auffassungsgabe oder geistige Beweglichkeit“, sondern „die Beobachtung und Sammlung von Tatsachen [...] mit allem nur erdenklichen Fleiß“[1] das Erfolgsgeheimnis seiner Forschungen sei. Spekulative Einbildungskraft und geniales Interpretationsvermögen standen als subjektive Erkenntnisformen einer objektiven Betrachtung des Gegenstandes zunehmend im Weg und mussten durch besondere Praktiken der Selbstdisziplinierung unterdrückt werden. Während die industrielle Revolution die Menschen daran gewöhnte, im Takt der produzierenden Maschinerie zu arbeiten, wurden Selbstbeherrschung, Fleiß und gewissenhaftes Protokollieren aller Arbeitsvorgänge auch zu epistemischen Tugenden der Forschung. Eine neue Form des wissenschaftlichen Sehens fand ihr Ideal in photographischen Abbildungsverfahren, in denen die Kamera – im Gegensatz zum subjektiven Blick – all jene Tugenden verkörperte, nach denen die Naturforscher und ihre IllustratorInnen strebten.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte es, bis Comtes zentrale Forderung, auch die Sozialwissenschaften sollten sich an den positiven Methoden der Naturwissenschaften orientieren, weitgehend durchgesetzt war. Nun entwickelte sich eine Kritik an der radikalen Trennung von erkennendem Subjekt und erkannter Objektivität, die jedoch kaum bis auf die Naturwissenschaften zurückwirkte. Die Kritische Theorie diagnostizierte Anfang der 60er Jahre im Rahmen des sogenannten Positivismusstreites das Ideal der wissenschaftlichen Objektivität, die sich von allem Einfluss des erkennenden Subjektes möglichst frei halten soll, als eine spezifisch kapitalistische Form der Entfremdung: Wie die ArbeiterInnen von ihren Produkten, so seien die WissenschaftlerInnen von ihren Objekten abgeschnitten.
Dr. Christine Zunke lehrt am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und arbeitet derzeit an ihrer Habilitation über den Lebensbegriff in der Biologie.
Im Anschluss an der Vortrag ist ein gemütlicher Kneipenabend mit der Gruppe et2c geplant.