Falsche Freund*innen, verkehrte Forderungen und zwielichtige Versprechen: Hygienedemonstrationen
Einschätzungen zu den gegenwärtigen Mobilisierungen im Kontext der Hygienedemonstrationen in Münster
In den letzten Wochen gab es in vielen Städten Demonstrationen und Kundgebungen, die sich gegen die gegenwärtigen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie richteten. Die Versammlungen finden unter dem Label Hygienedemo statt und ziehen ein heterogenes Publikum an: Impfgegner*innen und Esoteriker*innen; Verschwörungsgläubige und Chemtrail-Forscher*innen; rechte Wutbürger*innen, wie sie etwa von den Pegida-Demonstrationen bekannt sind, aber auch Menschen, die sich selbst als „links“ verstehen. In Münster finden seit vier Wochen solche Versammlungen statt. Die Veranstalter*innen aus Münster, die sich in mehreren Telegram-Gruppen organisieren, orientieren sich offenbar an den sogenannten Hygienedemos in Berlin, die von einem Zusammenschluss organisiert werden, der sich Nicht ohne uns nennt. Nicht ohne uns versucht ein bundesweites Netzwerk zu etablieren und gibt eine Zeitung namens Demokratischer Widerstand (DW) heraus, die auch in Münster verteilt wird. Wir wollen im Folgenden unsere Einschätzung dieser neuen Bewegung geben, die vorgibt, für die durch die staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in Gefahr befindlichen Grundrechte zu demonstrieren.
Die Corona-Pandemie stellt eine mehrfache Krise dar. Zuallererst ist sie eine gesundheitliche Krise, verursacht durch einen neuen Virus mit schwer einzudämmenden Infektionswegen und zum Teil äußerst schweren Krankheitsverläufen. Bei allen statistischen Unsicherheiten über die genaue Zahl der Corona-Toten ist eindeutig belegt, dass im März und April 2020 signifikant mehr Menschen verstorben sind, als in Jahren ohne Corona-Pandemie. Das epidemische Anwachsen der Corona-Infektionen brachte weltweit die durch neoliberale Spar- und Privatisierungspolitiken ohnehin unter Druck stehenden Gesundheitssysteme an den Rand des Zusammenbruchs. Zum zweiten zieht die gesundheitliche Krise auch soziale und wirtschaftliche Krisen nach sich, die durch die Krankheit selbst aber auch durch die zu ihrer Eindämmung durchgeführten Maßnahmen verursacht bzw. verstärkt werden. Wie auf diese mehrfache Krise reagiert wird, ist immer das Ergebnis politischer Entscheidungen und als solche sind diese natürlich niemals alternativlos. Allerdings stellt sich immer die Frage, welche Handlungsoption die vernünftigste und humanste ist. Und natürlich kommen dabei Interessengegensätze zum Vorschein. Es ist also gar nicht das Problem, dass staatliche Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie diskutiert und kritisiert werden. Problematisch aber sind die Erzählungen und Forderungen, die von der neuen Bewegung der „Corona-Rebellen“ verbreitet werden. Diese verbreitet nämlich verschwörungsideologische Thesen und Welterklärungen, leugnet die durch die Corona-Pandemie verursachte gesundheitliche Krise und fordert, die Aufhebung der Maßnahmen zum Infektionsschutz. Diese Erzählungen und Forderungen sind im erheblichen Maße anschlussfähig an rechte populistische Erzählungen, wonach ein „gutes Volk“ von „bösen Eliten“ (und den von ihnen kontrollierten Medien) zu finsteren Zwecken manipuliert und unterdrückt werde.
Leugnung der gesundheitlichen Krise
„Corona ist nicht das Problem“, heißt es von Seiten der Kampagne Nicht ohne uns , trotz nachvollziehbarer Infektionszahlen, schwer Erkrankten und Toten wird die gesundheitliche Krise geleugnet. Die Krankheit sei nicht mehr als eine normale grippale Infektion. Anderslautende Erkenntnisse werden zu Bestandteilen einer „inszenierten Hysterie“ erklärt.
Um die eigene Auffassung aufrecht erhalten zu können, wird darauf verwiesen, es gebe eben „zwei Meinungen“ zu Corona. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden so zu bloßen „Meinungen“ degradiert. Das vereinfachende Schema setzt sich fort: Anstatt sich mit der Vielheit der Perspektiven auf das Virus zu konfrontieren, die schlicht der Tatsache geschuldet ist, dass das Virus eine Katastrophe und Herausforderung völlig neuen Ausmaßes darstellt, wird in „Wahrheit“ und „Lüge“ unterteilt und das zur Wahrheit erklärt, was der Bewegung passt. Dabei funktioniert Forschung nicht so, dass am Ende eines Experiments „die Wahrheit“ steht, sondern Forschung lebt seit jeher davon, dass mit vielen verschiedenen Perspektiven versucht wird, validen Ergebnissen näher zu kommen. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind dabei stets vorläufig und haben sich Überprüfungen und möglicherweise Revisionen zu stellen. Diese Auffassung von Wissenschaft und Forschung wird zugunsten eines Wahrheit-Lüge-Schemas und eines Beharrens auf den eigenen Standpunkten fallengelassen.
Den Virus zu leugnen bedeutet letztlich, auf Kosten der Alten, Kranken und Schwachen zu handeln, für die das Virus eine tödliche Gefahr darstellt. Zwar besteht Nicht ohne uns auf ihrer Website auf „Würde für die Alten und Kranken“, was allerdings als hohle Forderung erscheint, wenn im gleichen Atemzug die Aufhebung aller Maßnahmen gefordert wird, die eben jene Bevölkerungsgruppe schützen.
Verschwörungsfantasien
Bei den Versammlungen in Münster, zu denen Rundgänge von kleineren Grüppchen über die Promenade und ein gemeinsamer Abschluss an der Aegidiischanze, sowie letzten Samstag eine Kundgebung in der Stubengasse zählten, wurden mit Straßenkreide Parolen wie „Gib Gates kei-ne Chance“, „Covid1984“ oder Statements gegen eine angebliche „Zwangsimpfung“ der Bevöl-kerung hinterlassen. An die Leugnung der gesundheitlichen Krise schließt sich die Kernerzählung der Bewegung an, dass „die Regierung“, personalisiert vor allem durch Angela Merkel oder Jens Spahn, unter dem Vorwand der Corona Schutzmaßnahmen die Bundesrepublik Deutschland durch eine „Diktatur“ ersetzen wolle. Die Maßnahmen dienten dem Zweck der „Umwandlung der Demokratie zu einer Diktatur, vergleichbar mit der Machtübertragung an die Nazis in den 1930er Jahren“, heißt es in der Nicht ohne uns-Zeitschrift.
Da die Bewegung die Gefahr durch das Virus leugnet, müssen andere, vermeintlich wahre Beweggründe hinter den getroffenen Maßnahmen stehen. Bei diesem „geheimen Plan“ wird oftmals dem Milliardär und Gründer von Microsoft, Bill Gates, eine besondere Rolle zugesprochen. Aus der Tatsache, dass die von Bill Gates finanzierte Bill & Melinda Gates Foundation international in Pharmakonzerne investiert, an die Weltgesundheitsorganisation spendet und Forschungen unter anderem zu Impfstoffen finanziert, entspringt die Verschwörungsfantasie, dass Bill Gates den Virus in die Welt gesetzt habe, um an Impfstoffen zu verdienen oder aber gar plane, Teile der Menschheit auszulöschen. Die Problematik, dass mit der Gesundheit von Menschen Profit gemacht wird, existiert schon lange und ist kein neues Phänomen, das durch Corona aufgekommen wäre. Sie resultiert aus der zunehmenden Privatisierung des Gesundheitswesens, welche Krankenhäuser dazu verpflichtet, profitorientiert zu arbeiten und im Wettbewerb zu bestehen. Statt auf die globalen Missstände im Gesundheitssystem aufmerksam zu machen, verfolgt die Bewegung eine Rhetorik, die Impfgegner*innen schon seit Jahren benutzen. Auf die Wahrheit ihrer eigenen Aussagen beharrend, gefährden sie damit sich und ihre Mitmenschen.
Darüber, dass die Bewegung Angst schürt vor einer „Corona-Diktatur“ und verschiedene Erzählstränge und Begründungsstrategien gleichzeitig verfolgt, finden sich in ihr verschiedene Akteursspektren zusammen. Ein Teil der Aktiven ist auch esoterisch unterwegs, hält sich selbst für linksalternativ und glaubt das Virus sei in Wirklichkeit „nicht besonders gefährlich und diene nur als Vorwand“ Grundrechte einzuschränken. Die „Corona-Lüge“ sei vorgeschoben, um der Bevölkerung zu schaden oder ein „nationaler Staatsstreich, der ein kapitalistisches Reset herbeiführt soll oder gar ein globales Überwachungsregime installiert.“, heißt es in der zweiten Aufgabe der Zeitung Demokratischer Widerstand. Das mag für die eine oder den anderen vielleicht nach linker Kritik an Staat und Kapital klingen, ist aber großer Unsinn. Dass diese Krise in irgendeiner Weise unmittelbar dem Kapitalismus nutzen soll, ist nicht zu erkennen. Vielmehr leiden bedeutsame vom Kapitalismus profitierende Akteur*innen ganz erheblich unter den Auswirkungen der Maßnahmen, den Einschränkungen globaler Handelsketten und der zusammenbrechenden Nachfrage. Die Corona-Pandemie führt bei einer auf Wachstum und Bewegung angewiesenen Wirtschaftsweise vielfach zu Stillstand. Auch hier zeigt sich also vielmehr das verschwörungsfantastische Weltbild der Nicht ohne uns-Macher, wonach es schon irgendeinen geheimen Plan gäbe, der die tatsächliche Ursache für die staatliche Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie sein soll.
Da wir es mit einer ziemlich beispiellosen Situation zu tun haben, die Einfluss auf die alltäglichsten Handlungen nimmt, ist die Situation für den Großteil der Gesellschaft natürlich stark verunsichernd. Dass diese Situation bei vielen Leuten Gefühle und Gedanken von Kontrollverlust und massiver Verunsicherung auslöst, ist nicht verwunderlich. Erst recht Menschen, die mit Verunsicherung und mit Uneindeutigkeiten nicht gut umgehen können, neigen dazu, Erzählungen plausibel zu finden, die Klarheit und Eindeutigkeit nahelegen und im besten Fall im selben Atemzug noch Verantwortliche oder Schuldige zu benennen imstande sind. In unübersichtlichen Situationen verleiht das Benennen und (öffentlich) zur Verantwortung ziehen von Schuldigen das Gefühl, Handlungsmacht zurückzugewinnen. Bill Gates erfüllt hier in der Rolle des „Superschurken“ also gerade eine psychologische Funktion.
Wohin diese Ansicht führen kann, zeigt sich beim Münsteraner Aktivisten von Nicht ohne uns Felix van Beuse, der in Videos auf seinem YouTube Kanal „Felix der Friedensbotschafter“ und auf der Kundgebung der Verschwörungstheoretiker am 16. Mai in Münster ohne mit der Wimper zu zucken die Teilnehmer*innen der Corona-Demos mit Menschen vergleicht, die in den 1930er Jahren Widerstand gegen das NS-Regime geleistet haben und damit das eigene Leben riskierten und oftmals verloren. Dies relativiert nicht nur das Leid jener, die im NS Regime Widerstand leisteten und ihr Leben verloren haben. Die Betitlung des derzeitigen Zustandes als „Globales Nazideutschland“ relativiert zudem die abscheulichen Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nazis.
Weiterhin bezeichnet er das Coronavirus durchweg verharmlosend und schlichtweg falsch als „Grippe“, wodurch er untermauern möchte, nichts rechtfertige die zeitweise verhängten Maßnahmen. Und er behauptet, das Einzige, was im Umgang mit dieser Erkrankungswelle hilft, sei eine Veränderung dahingehend, dass wir gesünder leben und so ein stärkeres Immunsystem bekommen. Man muss nur gesünder Essen, gesünder Leben – und „unser Bewusstsein stärken“. Impfen sei nicht zielführend, um das „grundlegende Problem“ zu lösen. Die inzwischen international bekannte und vernetzte extrem rechte Medienaktivistin aus Münster Naomi Seibt äußert sich in ihren neusten Videos ähnlich und verweist darauf, das eigene Immunsystem durch eine ausgewogene Vitamin und Omega-Fettsäuren Zufuhr zu stärken. Ohne Belege zu ihren Behauptungen präsentiert sie dies in ihrem Video als Tatsache und Lösung für die aktuelle Gesundheitskrise, die sie zynisch als „panicdemic“ bezeichnet. Es ist diese esoterische Weltsicht, verbunden mit der starken Überzeugung im Besitz einer unumstößlichen Wahrheit zu sein, die viele Impfgegner*innen eint. Letztlich können solche Aussagen dazu führen, dass Leute aufhören, sich wirksam gegen das Corona-Virus oder gefährliche Krankheiten wie die Masern zu schützen. Sie gefährden damit nicht nur sich selbst, sondern durch ihre egoistische Haltung vor allem andere Menschen.
Van Beuse sagt weiter, man müsse „neue Dinge in unser Leben lassen, die dafür sorgen, dass wir gesünder werden“. Er knüpft damit an einen sozialdarwinistischen und für Esoteriker*innen nicht untypischen Gedanken des survival-of-the-fittest an, wonach ein gesunder Geist und ein gesunder Körper notwendig und ausreichend sind, um den Gefahren jeglicher Krankheit zu trotzen. Die Annahme, alle Krankheiten seien auf mangelnde Reife im Bewusstsein, fehlende Meditation und falsche Ernährung zurückzuführen spottet nicht nur jeglicher wissenschaftlichen Erklärung, sondern vermittelt zudem den Eindruck, Kranke seien irgendwo selbst verantwortlich für ihr Leiden.
Scheinbar im Sinne der Menschen, die sich nicht impfen lassen können, argumentiert Björn Wegner, einer der Hauptorganisator*innen der Aktivitäten in Münster. So vertritt er die These, dass Menschen die Impfungen nicht vertragen und diejenigen, welche diese nicht für „sinnvoll halten“ gleichermaßen von einer vermeintlichen Zwangsimpfung benachteiligt wären. Er behauptet, dass die negativen Auswirkungen von Impfmaßnahmen in der gegenwärtigen Situation auf Grund eines „gleichgeschalteten Narrativs“ nicht beachtet würden. In seinen Fantasien von einem quasi totalitären System, welches gerade aufgebaut würde, schließt er an Gedanken von van Beuse an, in denen die Impfgegner*innen in erster Linie für Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung einstehen. Welche dramatischen Folgen das Verweigern von Impfungen durch Impfgegner*innen für Menschen aus Risikogruppen oder auch Kleinkinder, die sich nicht impfen lassen können, haben kann, kommt in seinen Ausführungen nicht vor.
Machtverständnis
Eine Erzählung, nach der „die Mächtigen“ verantwortlich für Elend, Diktatur und Prekarität sind, erfährt innerhalb von Nicht ohne uns eine große Zustimmung, ist aber auch für bestimmte linke Argumentationsmuster nicht untypisch, warum es nicht verwundert, dass auch kleine Teile des linksalternativen Spektrums sich dieser Bewegung anschließen. Die Schwierigkeit, hierauf eine emanzipatorische Antwort zu finden, ohne selbst in Schwarz-Weiss-Denken zurückzufallen, ist groß: Es reicht nicht, diese Erzählung schlicht zu verneinen, sondern stattdessen sollte für ein Verständnis der Funktionsweise und Wirkung von gesellschaftlicher Macht plädiert werden, die eine Schuldzuweisung auf eine kleine Gruppe an Menschen unmöglich macht. Statt lediglich einzuteilen in die Mächtigen und die Beherrschten einer Gesellschaft, sollte auf die strukturelle Wirkung von Macht verwiesen werden. Deutungen, Diskurse, Normen und Regeln werden von einer Gesellschaft und ihrer Struktur hervorgebracht. Die einzelnen Menschen werden als Teil der Gesellschaft durch die Struktur des Systems geprägt und verhalten sich den entstehenden Erwartungen und Zwängen entsprechend. Gleichzeitig tragen die Einzelnen auch dazu bei, dass das System bestehen bleibt, weil sie sich entsprechend der Struktur verhalten und diese so weiter fortbestehen kann. Die Verantwortung für das eigene Handeln liegt jedoch weiterhin bei uns selbst. Es ist die Aufgabe einer radikalen Linken diese Strukturen zu hinterfragen und zu verändern, die Falschheit des Systems sichtbar zu machen und gesellschaftliche Emanzipation zu erkämpfen und nicht, den Mythos einer zentralen Macht und Elite aufrechtzuerhalten.
Sich dieser Herausforderung einer vielseitigen und komplexen Antwort zu stellen, ist von enormer Wichtigkeit. Denn die Erzählung eines kleinen Kreises von Mächtigen wird nicht nur von Verschwörungstheoretiker*innen, sondern auch von der extremen Rechten verbreitet, womit nicht gesagt wird, dass dies vollständig getrennte Gruppierungen wären. Durch die extreme Rechte werden die Beherrschten mit dem Begriff des Volkes belegt, dessen Wohlergehen durch eine außenstehende Elite bedroht sei. Hier wird zum einen das Individuum zugunsten der nicht greifbaren Allgemeinheit fallengelassen, differente Meinungen werden einem Volkswillen unterstellt und somit geleugnet, auf der anderen Seite kann eine unbekannte Elite als Platzhalter für antisemitische Anfeindungen dienen. Zur Einordnung: Antisemitismus hängt eng zusammen mit Ideen einer unbekannten Elite oder Macht. Schon seit vielen Jahrhunderten stehen Jüdinnen und Juden sinnbildlich für eine Gruppe von Menschen, die im geheimen die Weltgeschehnisse lenke und so als mächtige, manipulative und böse definiert wird. In vielen Verschwörungsideologien werden Jüd*innen nicht direkt benannt, trotzdem „die Stereotype, mit denen z.B. Bill Gates oder andere vermeintliche Verschwörer assoziiert werden (hinterlistig, gierig, blutrünstig, bösartig, manipulativ; Kontrolle über Wirtschaft, Politik, Medien, Kultur, Bildung etc.), sind übereinstimmend mit denen, die in antisemitischen Äußerungen und Weltbildern seit Jahrhunderten Jüdinnen und Juden zugeschrieben werden.“
Populistisches Politikverständnis
Nicht ohne uns vertritt ein populistisches Politikverständnis. Dazu wird sich der auch in der Neuen Rechten beliebte strategisch-rhetorischen Selbstverortung „nicht links und nicht rechts“ zu sein bedient. Dieses Verständnis politischer Kategorien eröffnet auch der extremen Rechten einen Weg an den Demonstrationen teilzunehmen, ohne Gefahr zu laufen anzuecken. Und tatsächlich formiert sich hinter den rechten Welterklärungsmustern auch ein immer stärker werdender Teil der extremen Rechten. So haben in Städten wie Berlin, Dortmund, Hamm, Bielefeld, Paderborn und vielen weiteren bekennende Nazis mitdemonstriert. In Mönchengladbach wurde eine solche Versammlung direkt vom Verein „Mönchengladbach steht auf“ um den vormaligen HoGeSa-Organisator Dominik Roeseler angemeldet.
An dieser Stelle wird deutlich, was es bedeutet „nicht rechts und nicht links“ zu sein, wie es Nicht ohne uns behauptet: Anschlussfähigkeit für die extreme Rechte zu schaffen. In Münster wurde dieses Verständnis von Politik in dem Bannerslogan „Wir sind alle eins“ verdichtet. In diesem Spruch in ein defizitäres Verständnis von Demokratie bereits angelegt, nämlich die Entsagung politischer Kategorien, die eine differenzierte und emanzipatorische Kritik überhaupt erst ermöglichen. Wenn nämlich alle eins sind, dann braucht es keinen politischen Aushandlungsprozess und Streit als Grundlage von Demokratie mehr, sondern im besten Fall nur noch eine Lichtgestalt oder einen Führer, der den gemeinsamen Willen formuliert. Übersetzen ließe sich diese Parole von Nicht ohne uns in Münster auch in die rechte Pegidaparole „Wir sind das Volk“, ein Spruch auf den vermutlich lediglich aus strategischen Gründen verzichtet wurde. Ebenso anschlussfähig ist die Vorstellung eines gemeinsamen Willens an die rechte Strategie, nach der sich lediglich auf den „gesunden Menschenverstand“ bezogen werden müsste, um diesen Willen zu ermitteln. Durch diesen Bezug entfällt die Notwendigkeit einer differenzierten Begründung für Forderungen und Meinungen.
Wenngleich sich die Organisator*innen von Nicht ohne uns in Berlin allmählich von teilnehmenden Neonazis distanzieren, müssen sie sich der Kritik stellen, dass die Inhalte und Rhetorik in ihrem Kern rechte Erzählungen bedienen und deswegen zwangsläufig bundesweit ein solches Klientel anziehen. Die Bewegung in ihrer Gesamtheit wird immer stärker von extrem rechten Kräften beeinflusst. Während zu Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beispielsweise bei der AfD noch deutlich die Ratlosigkeit zu sehen war, wie mit der Krise umzugehen sei , so hat sie nun in den Demonstrationen eine Chance erkannt, sich wieder lautstark zu Wort zu melden und dabei auch wahrgenommen zu werden. Auch nahezu sämtliche extrem rechten Propagandist*innen im Internet haben sich nun der Agitation gegen die „Corona-Lüge“ verschrieben. Die extreme Rechte hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Erfahrungen mit (Massen)-Mobilisierungen auf der Straße und online gemacht, die sich aktuell als Vorteil erweisen. In den verbreiteten Verschwörungsthesen finden sie perfekte Anknüpfungspunkte, um nun über das Thema der Corona-Maßnahmen das politische System anzugreifen und zu destabilisieren.
Leerstelle Soziales
Besonders absurd ist, dass ein vermeintlicher Protest für alle, wie ihn Nicht ohne uns führen, eine klare Leerstelle dort aufweist wo Missstände, die auch im Normalbetrieb der kapitalistischen Gesellschaft existieren, durch die Krise offenbarer und verschlimmert werden.
Die Situation an den EU-Außengrenzen die sich mit der Krise nochmals massiv verschärft hat , wird ebenso wenig thematisiert wie die Situation von vornehmlich Frauen* und Kindern, die häusliche oder sexualisierte Gewalt in der Familie erfahren und kein Rückzugsmöglichkeiten oder Zugang zu Frauenhäusern haben . Auch die Situation von Alleinerziehenden, die durch fehlende Kinderbetreuung massive Probleme bekommen können, ihren Alltag aus Lohnarbeit, Familie, Haushalt und Krisenbewältigung zu gestalten, spielt keine Rolle. Wohnungslose, prekär Beschäftigte, EU-Migrant*innen, die für das deutsche Nationalgemüse Spargel schuften oder in den Schlachtfabriken des Landes unter menschenunwürdigsten Bedingungen arbeiten , auch über diese und viele weitere benachteiligte Gruppen, die es in der Krise und auch sonst am Härtesten trifft, spricht die Bewegung nicht.
So wird deutlich, dass die vertretenen Positionen bei Nicht ohne uns, und auch bei den Protesten in Münster ein „alle“ oder „Volk“ meinen, zu dem viele Menschen, die von gesellschaftlichen Strukturen und der aktuellen Krise stark benachteiligt oder gar in ihrem Leben bedroht werden, nicht gehören. Letztendlich bedeuten die Vorschläge zum Umgang mit der Krise, die von Nicht ohne uns formuliert werden, dass soziale Ungerechtigkeit bestehen bleibt oder sich gar verschärfen wird. Diejenigen, die ohnehin schon keine Stimme haben, unsichtbar gemacht werden oder sich nicht selbst vor dem Virus oder Auswirkungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse schützen können, werden weiterhin in diese Position verwiesen. Auch hier wird erneut offenbar, dass eine emanzipatorische und differenzierte Kritik an den aktuellen Verhältnissen nötig ist, die gemeinsam mit und von Menschen die verschieden von diesen betroffen, eingeschränkt oder bedroht sind, formuliert werden muss.
Fazit
Nicht ohne uns leugnet die gesundheitliche Krise. Die Basiserzählung, die die gegenwärtige Situation erklären soll, beginnt bei einem extrem vereinfachten Macht- und Demokratieverständnis und kippt in verschwörungstheoretische Deutungsmuster. Hinter der zunächst scheinbar legitimen Forderung nach mehr Demokratie treten Schuldzuweisungen hervor, die teils antisemitischen Gehalt haben oder durch NS-Vergleiche die Shoah verharmlosen und relativieren.
Mit ihren homogenisierenden Parolen wie „Wir sind alle eins“ oder „Wir sind das Volk“ macht die Bewegung deutlich, wie nah sich Politikverdrossenheit und nationalistischer Taumel stehen: Auf der einen Seite steht eine Auffassung von „wir da unten“ und „die da oben“, wobei „die da unten“ gleichgesetzt werden mit dem „Volk“, auf der anderen Seite wird mit dem Begriff „Volk“ ein Bild einer homogenen Gesellschaft als sozial gleichberechtigtes Kollektiv propagiert.
Dabei rücken die sozialen Missstände, die durch die Krise offenbar und verstärkt werden bei Nicht ohne uns in den Hintergrund. Dabei trifft diese Krise diese Teile der Gesellschaft tendenziell am Meisten – die prekär Beschäftigten, Alleinerziehenden, Personen die Angehörige pflegen und all jene, die kein Vermögen haben, auf das sie zurückgreifen können und nun vor dem finanziellen Ruin stehen. Hinzu kommen Geflüchtete ohne sicheren Aufenthaltsstatus oder an den EU-Außengrenzen und Wohnungslose, die auf keine sichere Struktur zurückgreifen können. Die Krise offenbart die tiefen Risse im kapitalistischen System, die sich nun darin äußern, dass das Gesundheitssystem kaputtgespart wurde und Menschen in die Lage gebracht werden, stets um ihre Existenzgrundlage bangen zu müssen.
Sicher ist: Die Krise ist nicht mit Corona hereingebrochen, sondern lag schon längst im System verankert. Die Corona-Krise bringt die Widersprüche offen zu Tage und verlangt eine Kritik, die diese zu analysieren vermag.
Bewegungen wie Nicht ohne uns forcieren – beabsichtigt oder nicht – einen Schulterschluss mit der extremen Rechten. Die Selbstverortung als weder rechts noch links trägt dazu bei. Es wird deutlich, dass ihre Forderung von Grundrechten nicht für alle gilt, sondern gerade jene ausschließt, die seit Jahren Angst haben müssen vor dem Anstieg rechter Gewalt, sowie der Zustimmung zu rechten Parteien. Sie sehen sich als unterdrückte Minderheit, während sie Teil einer privilegierten Mehrheit sind, die keine Angst vor mitmarschierenden Rechten haben muss. Das Grundrecht auf Würde, welches das Recht auf Leben einschließt scheint außerdem nicht für diejenigen zu gelten, die zur Risikogruppe des Virus gehören. Wer Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppe kategorisch ablehnt, nimmt den Tod zahlreicher Menschen billigend in Kauf und verhält sich menschenverachtend.
Um die Einschränkung von Grundrechten zu kritisieren, bedarf es keiner Leugnung der Gefahr an sich. Es braucht auch keine Kritik an „denen da oben“. Diese Krise zeigt die tiefen Probleme kapitalistischen Wirtschaftens auf, die jetzt noch viel mehr dafür sorgen, dass Menschen in Existenzängste gedrängt werden. Dem ist mit Solidarität und der Infragestellung kapitalistischen Wirtschaftens zu begegnen, nicht mit Leugnung des Virus und damit Gefährdung anderer Menschen.
Wir fordern Grundrechte für alle ein!
Für eine sofortige Aufnahme aller Geflüchteten
aus den Lagern an den EU-Außengrenzen!
Für soziale Gerechtigkeit!
Für Alternativen zum Kapitalismus!
Antifaschistisch, solidarisch und entschlossen // Antifaschistische Linke Münster, 22. Mai 2020 // antifalinkemuenster.blackblogs.org