Langsam wird es wieder still um Israel und Palästina. Der intellektuelle Pulverrauch scheint sich gelegt zu haben. Ja, es wird sogar wieder über Lösungen, über eine Nachkriegsordnung nachgedacht.
Aber nichts ist vorbei: Die Bekenntnisse sind ausgesprochen, die Seiten gewählt. Die einen haben sich für die Solidarität mit dem vermeintlichen palästinensischen Befreiungskampf entschieden und die anderen schreien ihnen entgegen: „Antifa heißt Solidarität mit Israel“.
Diese Neuauflage des antideutschen Diskurses, die wir momentan erleben, könnte an das Marxsche Diktum erinnern, dass sich die Geschichte einmal als Tragödie und ein zweites Mal als Farce wiederholt. Die Antideutschen, die heute ihren Marsch durch die Institutionen längst vollzogen haben und als ProfessorInnen, oder Antisemitismusbeauftragte in den Staatsapparaten angekommen sind, waren einst, Anfang der 1990er Jahre und angesichts der „Wiedervereinigung“ mit einer radikalen, antinationalen Kritik angetreten: Diese bestand darin, eine Kontinuität zu sehen zwischen der „Volksgemeinschaft“, die den nationalsozialistischen Massenmord an JüdInnen rechtfertigte und all denen, die meinten nach 1989 ein starkes, geeintes, geläutertes Deutschland wieder herstellen zu können, das in der Welt wieder was zu sagen und durchzusetzen hatte. Richtig vorausgesehen hatten sie das Wiedererstarken des deutschen Nationalismus, die rassistische Quasi-Abschaffung des Asylrechts und die Wiederkehr des Militarismus einschließlich der Kriegsbeteiligung. Tragisch war ihre Geschichte trotzdem, weil sie ihre eigene kapitalismuskritisch fundierte Nationalstaatsanalyse und die Ideologiekritik als Kern der kritischen Theorie offenkundig schnell vergessen haben.
Heute verdoppeln sie, nachdem dies durch die Haltung weiter Teile der Linken zu Corona und zum Ukrainekrieg schon geschehen ist, bereits zum dritten Mal den Diskurs der Regierung. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass viele, die aus der radikalen antideutschen Linken kamen, schließlich zu SteigbügelhalterInnen dessen wurden, was sie einst düster vorausahnten: islamfeindliche Agitation ebenso wie den Ruf nach Kriegseinsätzen als angeblich letztes Mittel gegen die Gefahr eines neu aufkommenden Faschismus. Hätten sie ihre linke (National)Staatskritik ernst genommen, würde ihnen das Elend ihres eigenen Anteils an der Homogenisierung des deutschen Volkskörpers (diesmal über den Antisemitismus) genauso aufgehen wie die tragische Fehleinschätzung des real existierenden israelischen Nationalstaats und der Hoffnungslosigkeit angesichts dessen Politik einen sicheren Ort für JüdInnen in dieser Welt zu schaffen. Israel und seine Alliierten zerbomben gerade jede Zukunft für Menschen jüdischen Glaubens.
Aber auch die PalästinenserInnen und viele ihrer UnterstützerInnen gehen offenkundig dem Mythos des Nationalstaats auf den Leim. Die Wiederauflage der Idee eines Befreiungsnationalismus als antikolonialer Perspektive ignoriert alle Aporien dieser Idee und ihrer Geschichte. Fatal ist gerade deshalb, dass die Protestierenden mit Slogans wie „From the river to the sea …“ alle hinter sich bringen wollen, angefangen bei den VerfechterInnen eines säkularen Gesamtstaates, bis zu denen, die für die Vertreibung eines Großteils seiner gegenwärtigen Bewohnerinnen und Bewohner eintreten, weil sie die Nachfahren von „Kolonisatoren“ seien. Diese bewusste Uneindeutigkeit verweist darauf: Niemand soll aus der Bewegung ausgeschlossen sein, wenn es um die palästinensische Nation geht.
Es geht dann lediglich noch darum, auf welcher Seite wer steht: Palästina oder Israel? Ist die entsprechende Seite einmal gewählt, so sind die gegenseitigen Vorwürfe fast spiegelbildlich: Die andere Seite würde eine Täter-Opfer-Umkehr betreiben, reales Leid leugnen, sei antisemitisch bzw. rassistisch.
Demgegenüber wollen wir auf einer antinationalen, antiidentitären linken Position beharren, auch wenn diese auf ihre Marginalität zurückgeworfen wird: Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit wird es für alle, die in Israel und Palästina leben, nur jenseits von Staaten und einem nationalen Denken geben.
Dies erscheint uns auch, so utopisch es klingt, die einzig „realistische“ Lösung: Denn kein realpolitisches Staatenprojekt hat angesichts der Schwäche der Linken auf beiden Seiten momentan das Potential etwas anderes zu werden als eine Fortsetzung der national-religiösen oder säkular-liberalen Gewaltverhältnisse. Die besten Traditionen der Antideutschen aufgreifend wollen wir so auf dem Nicht-Identischen beharren, das die Kritische Theorie uns vor Augen stellt, gegen jede Versuchung im Identitätsdenken das Heil zu suchen. Doch die Linke scheint solchen identitären Versuchungen heute kaum noch Widerstand entgegenzubringen und droht sich noch überflüssiger zu machen und die herrschende Hoffnungslosigkeit zu verdoppeln. Das gilt nicht nur in der Frage von Israel/Palästina, sondern auch für den Ukrainekrieg. Aber das wäre einen eigenen Text wert…