Schattenseiten des deutschen Gesundheitswesens

Menschen mit höherem Einkommen haben im deutschen Gesundheitswesen wenige Probleme. Sie können zwar Anstoß nehmen an der bürokratischen Kostenabrechnung, falls sie beihilfeberechtigt sind. Manche(r) von ihnen mag sich auch sorgen, die bevorzugte Behandlung zu verlieren, wenn die Gebührenordnungen für Privat- und Kassenpatienten, wie bereits öfters diskutiert, tatsächlich angeglichen werden. Bisher jedoch bekommen Privatversicherte eher Arzttermine, haben die volle freie Arztwahl und können sich im Alter jedwede Betreuung sichern, indem sie sie privat bezahlen. 

Die Menschen mit niedrigem oder gar keinem Einkommen leiden dagegen unter dem Ärztemangel auf dem Lande, den Wartezeiten auf Arzttermine, dem Mangel an Pflegekräften in Heimen und Krankenhäusern oder an den Zuzahlungen bei Zahnersatz und Pflegekosten. Im Gegensatz zu den reichen Schichten der Bevölkerung können sie sich oft keine Sehhilfen leisten, bekommen nur einfache, billige Hörhilfen, wenig komfortable Rollatoren und nicht immer den notwendigen Zahnersatz, da der sehr teuer ist. Verschreibungsfreie Medikamente können sie häufig nicht bezahlen, auch wenn sie notwendig sind. Die vorgesehenen Zuzahlungen zu Heil- und Hilfsmitteln und bei Krankenhaus-, Reha- und Kurmaßnahmen fallen ihnen schwer, bis die Befreiungsgrenze erreicht ist. 

Die vielen Maßnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen haben dazu geführt, dass auch die oberen Etagen der Krankenkassen das Sparen verinnerlicht haben. Die fragen nicht: 'Was kann ich für meine Versicherten tun?', sondern: 'Wie können wir die Ausgaben reduzieren oder zumindest eindämmen?'

Der Prozess von der Teilprivatisierung des Krankenhauswesens und der Heimleistungen bis zu deren vollständigen Privatisierung ist weit fortgeschritten. Die ausgegliederten Bereiche sind meist nicht an Tarifverträge gebunden, an der Bezahlung der Beschäftigten wird gespart. Einsparungen von Kosten sind meistens gleichbedeutend mit Einsparungen bei den Gehältern. 

Der aktuelle Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD sieht vor, dass Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zum Tragen kommen. Dafür soll gemeinsam mit den Tarifparteien gesorgt werden. Wie das geschehen soll, wenn der Staat sich gemäß dem neoliberalen Modell weitgehend aus allen Entscheidungen heraushält, bleibt unklar. 

Leichte Verbesserungen versprechen sich die Koalitionäre von der Einsetzung einer Kommission, die eine Angleichung der Gebührenordnungen erarbeiten soll. Der Zuschuss zum Zahnersatz soll von 50 auf 60 Prozent steigen, und die Vermittlung von Arztterminen soll auch bei Haus- und  Kinderärzten durch die Terminservicestellen - dann zwischen 8 und 18 Uhr - erfolgen. 

Auch sollen 13.000 zusätzliche Stellen für Pflegekräfte in den Heimen geschaffen werden. Aber wo sollen diese Pflegekräfte herkommen? Schon jetzt sind viele Stellen nicht zu besetzen. Man bräuchte viel mehr Ausbildungsplätze für Pflegekräfte und weit mehr zusätzliche Stellen in den Heimen. Zum Teil werden schon jetzt Pflegefachkräfte aus dem Ausland angeworben, die dann dem dortigen Gesundheitswesen fehlen. 

Das Sofortprogramm des Gesundheitsministeriums sieht vor, zusätzliche  Pflegestellen im Krankenhaus und Tarifsteigerungen von den Kostenträgern, das heißt in der Regel von den Krankenkassen, zu refinanzieren. Ein Anreiz, mehr auszubilden, soll dadurch geschaffen werden, dass die Ausbildungsvergütungen in der Kranken- und Altenpflege im ersten Ausbildungsjahr auch von den Krankenkassen getragen werden. Mithilfe eines komplexen Bewertungssystems sollen erhöhte Pflegeaufwendungen nachgewiesen und dafür den Krankenhäusern zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. 

2004 wurden zur Abrechnung der Behandlungskosten in den Krankenhäusern diagnosebezogene Fallgruppen eingeführt. Jedes Krankenhaus bekommt für die gleiche Diagnose eine bestimmte Geldmenge unabhängig von dem individuellen Behandlungsbedarf vergütet. Diese Fallpauschalen sind maßgeblich für die radikale Ökonomisierung in den Krankenhäusern verantwortlich. Laut Pflegepersonal-Stärkungsgesetz ist geplant, die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herauszunehmen. Ob dieses Vorgehen ein Schritt in die richtige Richtung sein wird, muss sich zeigen. Nur wenn dadurch wirklich mehr Geld für die Pflege zur Verfügung steht, ist eine Besserung möglich. 

Es kann sich nur etwas zum Guten verändern, wenn der Staat wieder stärker gestalterisch tätig wird. Das übermäßige Setzen auf den freien Markt hat nur zu mehr Arbeitshetze, Unzufriedenheit der Beschäftigten und - beispielsweise durch die Schließung von Krankenpflegeschulen - zu dem Mangel geführt, der jetzt beklagt wird. 

 

Autor*in
Dr. Jürgen Kemper